Natürlich herrscht wieder Krieg in Gaza.
Das war zu erwarten.
Nicht zu erwarten war der massive Ausbruch bewaffneter Kräfte der Hamas aus dem eigentlich hermetisch abgeriegelten Gazastreifen.
Nicht zu erwarten war auch das unbekannte Maß an mörderischer, menschenverachtender Brutalität, mit der nun Hamas-Militante jüdische Zivilisten abgeschlachtet haben.
Hat Israel nicht alles getan, um so etwas unmöglich zu machen? Es gibt den vielfach gesicherten Trennzaun, Wachtürme, Überwachungskameras, elektronische Sensoren, und sogar tief in die Erde reichende Sperren, um den Bau von Tunneln unter dem Sperrzaun zu verhindern.
Wie konnte das passieren?
Netanjahu schadet Israel
Die amerikanische Historikerin Barbara Tuchmann hat vor vielen Jahren ein Buch geschrieben mit dem Titel “Die Torheit der Regierenden – Von Troja bis Vietnam”.
Tuchmann hätte ohne Weiteres die Politik von Benjamin Netanjahu gegenüber den Palästinensern in ihr Werk aufnehmen können.
Torheit definiert Tuchmann über drei Eigenschaften:
- Die Politik erweist sich bereits während der Zeit ihrer Ausführung als kontraproduktiv. Das heißt, dass sie gegen die eigenen Interessen wirkt.
- Die Politik muss über Alternativen verfügen, die sie hätte wählen können.
- Die törichte Politik liegt nicht an einem einzelnen Politiker, sondern wird über eine längere Zeit von vielen Verantwortlichen mitgetragen werden.
Alle drei Kriterien treffen auf die harte anti-palästinensische Politik Israels während mindestens der letzten drei Jahrzehnte zu.
Die kontraproduktive Politik Israels
Die Politik Israels gegenüber den Palästinensern steht den eigenen Interessen seit langem entgegen: Israel kennt gegenüber den Palästinensern nur Ausgrenzung, Abgrenzung und hartes Zuschlagen. Kein vernünftiger Mensch darf annehmen, dass so eine kriegerische Haltung dazu führt, einen dauerhaften Frieden zu erreichen. Ein jahrzehntelang unterdrücktes und an Checkpoints tagtäglich gedemütigtes Volk wird immer wieder Wege suchen, aus dieser Lage zu entkommen. Falls also Frieden das echte Interesse Israels sein soll, dann ist so eine Politik der Härte kontraproduktiv.
Alternativen zur törichten Politik Israels
Alternativen gab und gibt es viele. Jitzhak Rabin hatte mit dem Oslo-Prozess mindestens ansatzweise versucht zu einem Ausgleich mit den Palästinensern zu kommen. Widerstrebende Kräfte in Israel – allen voran die militante Siedlerbewegung mit Unterstützung durch das Militär – haben den Prozess systematisch unterlaufen. Rabin hat seinen Friedensversuch mit dem Leben bezahlt – und Netanjahu hatte großen Anteil daran. Eine Rückführung von vertriebenen Palästinensern oder Reparationszahlungen für die massenhaften Enteignungen können ebenso zu den Alternativen gerechnet werden wie eine echte Gleichstellung der palästinensischen Israelis, die immer noch Bürger zweiter Klasse sind. Selbstverständlich würde auch ein Ende und eine wenigstens teilweise Rücknahme der fortgesetzten jüdischen Besiedlung der Westbank zu einer alternativen Politik gehören (die radikale Hamas hat auch deswegen Zulauf in der Westbank bekommen).
Viele Beteiligte an der falschen Politik Israels
Spätestens mit dem rechten Likud-Führer Menachem Begin hat in den späten Siebzigern eine (ultra-) nationalistische Politik gegenüber den Palästinenern eingesetzt, die unter Ariel Scharon mit größter Brutalität praktiziert und unter dem erklärten Palästinenserhasser Netanjahu nochmals zementiert wurde.
Anstelle einer auf Ausgleich und Versöhnung gerichteten Politik verfolgt Israel seit Jahrzehnten im Wesentlichen eine doppelte Strategie.
(1) Teile und herrsche
Israel meinte schon in den achtziger Jahren irrtümlich, dass es einen Vorteil gegenüber Arafats PLO bringen würde, wenn es eine Kraft unterstützt, die mit der PLO konkurriert.
Israel hatte daher begonnen klammheimlich die junge Hamas zu unterstützen, die während der ersten Intifada (1987) groß wurde. Man glaubte die Hamas irgendwie im Griff behalten zu können. Das war eine grandiose Fehleinschätzung.
Trotz mehrerer Gazakriege zwischen Israel und der Hamas ist Netanjahu noch immer Anhänger dieser Strategie.
(2) Handle mit eiserner Faust!
Die einzige kontinuierliche israelische Strategie zur Verhinderung eines Krieges – egal ob mit Blick auf die Hamas oder die Hizbollah im Libanon – ist die der maximalen Abschreckung.
Die israelische Variante des amerikanischen “shock and awe” (Furcht und Schrecken) wurde während des letzten Libanonkriegs durch General Eisenkot definiert. Der damalige Oberbefehlshaber des Nordabschnitts wurde später Generalstabschef der israelischen Armee, und ist aktuell – wen wundert es? – als Berater in das Kriegskabinett von Netanjahu berufen worden. Dort sitzt er neben dem amtierenden Generalstabschef Herzl Halevi, der angekündigt hat, dass man Gaza nach diesem Krieg nicht mehr wiedererkennen würde.
Die früheren Chefs des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet haben in der Dokumentation “Töte zuerst!” diese Politik der Härte erstaunlich offen kritisiert: Das sei immer nur kurzsichtige Taktik gewesen, aber man habe nie eine langfristige Strategie erkennen können, die zu Frieden führen würde. Besonders pointiert hat das der ehemalige General und Shin Bet-Chef Ami Ayalon formuliert. Israel sei aufgrund dieser fehlgeleiteten Politik inzwischen zu seinem eigenen größten Feind geworden:
Anführer von Terroristen zu töten, ohne etwas gegen die Ursache der Verzweiflung ihrer Anhänger zu tun, ist töricht und erzeugt mehr Frustration, mehr Verzweiflung und daher mehr Terrorismus.
Ami Ayalon, zitiert aus The Guardian
Furcht und Schrecken im Gaza-Krieg 2023
Was die Welt in diesem neuen Krieg zu sehen bekommen wird ist “shock and awe reloaded“.
Israels Militärführung hat erklärt, dass seine Bombardements primär gegen die Hamas gerichtet seien. Doch inzwischen wurden Tausende (!) Gebäude zerstört. Daneben wird offenbar erneut die fürchterliche und kriegsvölkerrechtlich verbotene Waffe “Weisser Phosphor” eingesetzt (Brandbomben).
Gegenüber der “Strategie” der Gazakriege von 2008/9 und 2013 hat sich demnach nichts geändert. Israel wird die Hamas schon wieder endgültig besiegen.
Dank der fortgeschrittenen Waffentechnologie wird es allerdings noch mehr Tote, Verletzte und zerstörte Städte geben.
Das gilt offenkundig inzwischen auch für Israel. Das sollte zu denken geben. Tut es aber nicht. Der Weg in den Abgrund wird weiter beschritten.
— Schlesinger jr.
Ergänzende Leseempfehlung: Mein Beitrag von vor ~9 Jahren auf dem FREITAG Verspielt Israel seine Zukunft?
Grafik: CENTAF / Aljazeera, CC-Lizenz