Wie verstörend muss das sein für die selbsternannten Beschützer Israels mit ansehen zu müssen welche enormen und immer stärker werdenden Kräfte darauf einwirken die israelische Demokratie zu beseitigen.
Nein, hier ist nicht die Rede von “Israelkritikern” oder vermeintlich notorischen linken Israelhassern, sondern von jüdischen Orthodoxen im Land selbst, die im Verbund mit teils nicht-religiösen, aber nationalistischen Siedlern gegen das laizistische Israel ankämpfen:
Gerade erklärt Benny Katzover, Vorsitzender des Kommittees der Einwohner von Samaria*, stellvertretend für viele seiner Gesinnungsgenossen:
Die wesentliche Rolle der israelischen Demokratie besteht jetzt darin zu verschwinden.
Die israelische Demokratie hat ihre Rolle nun überdauert, sie muss sich nun auflösen und den Weg frei machen für den Judaismus.
Es führt nichts an der Erkenntnis vorbei dass es keinen anderen Weg gibt als den [orthodoxen] Judaismus in den Mittelpunkt zu setzen, über alles zu setzen, und das ist die Antwort auf jede denkbare Situation.**
Katzover droht weiter, man habe die Linken unter genauer Beobachtung: Die würden gegen die Orthodoxen und die Hügeljugend aufstacheln.
Zur Erinnerung: Die Hügeljugend besteht aus überwiegend orthodox orientierten Jugendlichen aus Siedlungen der Westbank, die sich durch extremistische Haltungen und Äußerungen auszeichnen. Zuletzt haben radikale Siedler zusammen mit diesen Jugendlichen aus Protest gegen eine vermeintliche Räumung einer kleinen Siedlung (“outpost”) einen israelischen Militärposten angegriffen und dabei auch Molotow-Cocktails geworfen.
Das war nicht der einzige Vorfall, bei dem sich Siedler nicht nur massiv gegen Palästinenser, sondern auch gegen das eigene Militär oder die Grenzpolizei wenden, wenn sie der Auffassung sind, ihre Freiheit zur schrankenlosen Besiedlung von “Judäa und Samaria” würde behindert. Dieser Auffassung sind sie oft, aber nicht deshalb, weil die Regierung den Siedlungsbau nennenswert beeinträchigen würde – de facto wird er massiv gefördert, trotz einzelner, aus außenpolitischen Gründen gebotener Räumungen – sondern weil jegliche Behinderung als Affront gewertet wird.
Der jüngste Vorfall ging auch für Ministerpräsident Netanjahu zu weit (“rote Linie überschritten”) und Staatspräsident Peres zeigte sich zurecht empört (“eine Bedrohung Israels”).
Katzover und die seinen jedenfalls sehen das Recht ganz auf ihrer Seite während die Linke im Land zweierlei im Schilde führen würde: Zum einen will sie die Regierung untergraben und zum anderen das Fundament des jüdischen Glaubens selbst angreifen. Dieses Fundament ist – wenn es nach Katzover geht – die Liebe zum Land Israel. Damit ist, selbstredend, das “ganze” Israel gemeint, wie es sich aus der Thora ergibt, also einschliesslich der Westbank, und nach mancher Auffassung auch einschliesslich der Eastbank, also dem heutigen Jordanien.
Dieses Groß-Israel der nationalistisch gesinnten Orthodoxen – nicht alle sind Befürworter eines Groß-Israel – kann aber nach deren Geschmack nicht weltlich-demokratisch geformt sein, sondern nur orthodox-authoritär.
Keine Frage, dass die Mehrheit Israels mit dieser Vorstellung nicht einverstanden ist. Doch wie so oft werden die Stimmen, die am lautesten sind auch am meisten gehört und irgendwann als die Stimmen der Mehrheit wahrgenommen.
Dazu kommt das demografische Element. Oft steht die “demografische Bombe” in Gestalt der arabischen Israelis zur Debatte. Deren Geburtenrate liegt über der Rate von jüdischen Israelis. Mit einer Ausnahme: die Geburtenrate der Orthodoxen liegt ebenfalls weit über derjenigen der weltlichen (jüdischen) Israelis.
Der Siedler-Golem, den Ministerpräsident Levi Eshkol während des Sechstagekriegs 1967 gewissermaßen aus Unachtsamkeit geschaffen hat und der von allen folgenden Regierungen weiter gepäppelt wurde, zeigt sich inzwischen als kaum beherrschbares Monstrum.
In den Worten des Meretz-Abgeordneten Nitzan Horowitz geht es derzeit darum:
Wird Israel ein fortschrittliches und demokratisches Land sein oder eine abgeschottete und rückständige Gesellschaft?
Die derzeit gefährlichsten Feinde Israels, jedenfalls des demokratischen Israel wie es gedacht wurde von den Gründervätern, sind die Orthodoxen. Denn gegen echte oder vermeintliche Feinde im Äußeren kann man sich wehren. Das zeigt Israel ein ums andere mal. Wie aber kann sich Israel wehren gegen diejenigen im Innern, die ein ganz anderes Israel wollen?
Entgegen dem Titel und entgegen aller Katzovers ist zu fordern: Israels Demokratie muss gestärkt werden! Das aber kann nur die Bevölkerung selbst erreichen. Sie muss erneut kämpfen um ihren Staat, oder verliert ihn.
— Schlesinger
Nachtrag 09.01.2012
Heute kommt der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, im Beitrag “Eine verwirrte Gesellschaft” für die Süddeutsche, bei dem es ihm vor allem um die Zukunft der Protestbewegung J14 geht, die letztes Jahr für großes Aufsehen sorgte, zu einem ganz ähnlichen Tenor:
So ist, trotz aller Wirtschaftserfolge, der Mittelstand immer ärmer geworden. Der Grund ist, dass die Behörden immer mehr Geld für die Siedlungen und für die Streitkräfte ausgeben, die diese Siedlungen sichern sollen. Zusätzlich werden aus Koalitions-Überlegungen immer mehr Mittel für die unproduktive und dennoch wachsende ultraorthodoxe Bevölkerung zur Verfügung gestellt. […]
[Der säkulare Mittelstand] muss sich politisieren und für eine Lösung der Grundprobleme des Staates kämpfen.
Ob er das will oder kann, steht noch nicht fest.
* Das alttestamentarische Samaria, oder Shomron im Hebräischen, ist neben Judäa ein Teil der heutigen arabischen Westbank
** the main role of Israeli democracy now is to disappear. Israeli democracy has finished its role, and it must disassemble and give way to Judaism. All leads toward recognition that there is no other way but to place Judaism at the center, above all else, and this is the answer to every situation.
PS.: Ich korrigiere den Tenor meines Eingangssatzes. Für die “Verteidiger” Israels müssen die gegenwärtigen Tendenzen gar nicht verstörend sein. Immerhin sind diese Strömungen anti-demokratisch, woraus Leute wie Katzover nicht den geringsten Hehl machen. Das passt insofern nicht übel zu einigen der so kraftvollen vermeintlich pro-israelischen Stimmen hierzulande, deren Beiträge und Kommentar-Spalten übervoll sind von wenig demokratischen Gesinnungen.
Ich jedenfalls bin Freund eines demokratischen Israel, das auf Grundlage von UN Resolution 242 oder einer darauf basierenden einvernehmlichen Lösung in Ruhe mit seinen Nachbarn leben soll. Hier mögen die Weltanschauungen tatsächlich auseinandergehen: Gegen ein theokratisches Israel hätte ich ähnliche Vorbehalte wie gegen das autokratische Syrien oder einen diktatorisch-theokratischen Iran. Wobei sich die Vorbehalte gegen die politische Staatsform richten würden, nicht gegen das Anrecht auf einen souveränen Staat selbst.
Bild: Mikolas Ales (via Wikimedia, Public Domain)
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