Auch Nationen haben ihre schwachen, unachtsamen Momente.
In solchen Momenten kann alles in eine Richtung treiben, die niemand vorhergesehen hatte. Deren Konsequenzen niemand vorhersehen konnte oder wollte.
Der 25. September 1967 war so ein Tag. In den Geschichtsbüchern wird man ihn allenfalls als Fußnote finden. Denn dieser Tag war weder Beginn noch Ende des Sechstagekriegs. Der hatte im Juni zuvor stattgefunden.
Siedler überrumpelten schwachen Ministerpräsidenten Eshkol
An jenem 25. September stürmten einige junge Israelis in das Büro von Ministerpräsident Levi Eshkol. Die Gruppe unter der Führung von Hanan Porat bedrängte den 72jährigen Regierungschef sein Einverständnis zur Besiedlung eines Stücks Land in der gerade besetzten Westbank zu geben.
Chaim Gvati, Landwirtschaftsminister und Vertrauter Eshkols, riet seinem Regierungschef zur Vorsicht. Diese Sache sei heikel. Man sollte sie gründlich im Kabinett diskutieren. Ohne Erfolg.
Eshkol war nicht nur alt, sondern auch regierungsmüde.
Der Sechstagekrieg mag für Israel ein Erfolg gewesen sein. Für Eshkol selbst brachte er eine Niederlage nach der anderen. Eshkol wollte den Krieg nicht. Seine Generäle schon. Eshkol konnte sich nicht behaupten. Er konnte sich auch nicht dagegen wehren, das Amt des Verteidigungsministers an Moshe Dayan geben zu müssen. Er versagte bei einer wichtigen Radioansprache an die Nation. Er stand unter beständiger, ätzender Kritik seines Vorgängers und Übervaters David Ben-Gurion.
Dann standen diese Heißsporne vor ihm. Voll Energie und Tatendrang schienen sie die Wiedergeburt des alten Pioniergeistes zu sein, der seit langen Jahren irgendwie in Vergessenheit geraten war. Auch diesem unbändigen Willen konnte Eshkol nichts entgegen setzen.
Mit einem „Dann los“ entledigte er sich der jungen Männer.
Zwei Tage später schlugen die Siedler der Gruppe um den jungen, aber schon bekannten Porat ihre ersten Pflöcke in die Erde von Kfar Etzion.
Von diesem „Etzion-Block“ aus sollte in den Jahren und Jahrzehnten nach jenem Herbst 1967 die jüdische Besiedlung des eroberten Westjordanlandes ausgehen.
Als wollten die Zeitläufte immer wieder das Nietzsche-Wort vom „Spielkind Geschichte“ unter Beweis stellen, das in einem Moment etwas Großartiges erbaut, um es im nächsten Moment ohne Erbarmen zu zerstören, haben diese Zeitläufte Israel im Juni 1967 einen grandiosen Sieg über die arabischen Armeen beschert, um dem Sieger im gleichen Zuge die Saat fortgesetzter Friedlosigkeit zu bescheren: Die jüdische Besiedlung der besetzten arabischen Gebiete.
Die Siedler sehen ihr Werk freilich ganz anders. Sie glauben gottgefällig zu handeln. Sie wollen Israel zu alter Größe verhelfen. In Judäa und Samaria. Also in der Westbank.
Rabbi Zvi Yehuda Kook, einer der spirituellen Führer der Siedlerbewegung, gab die Losung aus, die Besiedlung des ganzen Landes Israel wiege so schwer wie die Tora selbst.(1) Die Araber sind nur störendes Beiwerk. Solange sie unauffällig bleiben, kann man sie ignorieren. Wehren sie sich gegen diese Landnahme, muß man gegen sie vorgehen, sie beseitigen.
Rabin, Oslo-Friedensprozess: Eine Gefahr für Israel
Schlimm wurde es für die Siedler, als sich Anfang der Neunziger Jahre eine Verständigung zwischen Israel und den Arabern abzuzeichnen schien.
In Washington gaben sich Ministerpräsident Jitzchak Rabin und der PLO-Vorsitzender Yassir Arafat die Hand.
Sollte Rabin tatsächlich Frieden machen wollen mit einem Terroristen wie Arafat? Wollte man den Arabern wirklich das jüdische Kernland Judäa und Samaria überlassen? Das kam einer Gotteslästerung gleich.
Eljakim Ha’etzni – in Kiel als Georg Bombach geboren – ist wie Hanan Porat seit Beginn der Siedlerbewegung an prominenter Stelle dabei. Über die Annäherung zwischen Rabin und Arafat meinte er mit biblischem Pathos:(2)
Der Tag, an dem dieser Händedruck stattfand – dieser 13. September 1993 – wird in die Geschichte eingehen wie der Tag der Zerstörung des Zweiten Tempels.
Der Arzt und Siedler Baruch Goldstein wollte nicht tatenlos zusehen. Am Morgen des 25. Februar 1995 zog er in Kiryat Arba, der jüdischen Siedlung neben dem arabischen Hebron, seine Reservisten-Uniform an, nahm seine Uzi-Maschinenpistole und mehrere Magazine, und ging zur Machpela, dem Grab der Patriarchen. In dieser für Juden und Moslems gleich bedeutsamen Heiligen Stätte fand gerade das muslimische Morgengebet statt. Goldstein schlug den Türwächter nieder, betrat den Gebetsraum und schoß vier Magazine leer, bevor er überwältigt werden konnte. Er tötete 29 Menschen und verwundete 125, bevor er selbst erschlagen wurde.
In Hebron wurden Lobeshymnen auf Dr. Goldstein gesungen. Hanan Porat meinte angesichts der von Goldstein ermordeten Palästinenser:
Ein toter Araber ist für mich so anonym wie ein toter Bosnier.
Rabin erkannte sehr wohl, dass dieser Anschlag weniger den Betenden in der Machpela galt, sondern dem Friedenprozess selbst. In der Knesset wütete er gegen die Siedler, die er als Feinde des Friedens ansah: (3)
Ihr seid nicht Teil der israelischen Gemeinschaft.
Ihr seid nicht Teil des demokratischen, nationalen Lagers, dem wir alle in diesem Haus angehören, und sehr, sehr viele im Volk verabscheuen Euch. Ihr habt nicht Teil am zionistischen Werk.
Das vernunftbegabte Judentum speit Euch aus. Ihr habt Euch außerhalb des jüdischen Rechts gestellt.
Ihr seid eine Schmach für den Zionismus und ein Schandfleck für das Judentum.
Rabin war wütend, aber er unternahm nichts. Er unterschätzte die Siedler, ihre Entschlossenheit und Radikalität.
Hamas antwortet den Siedlern
Kurz nach dem Massaker von Hebron begannen die verheerenden Selbstmordattentate der Hamas.
Mati Steinberg, damals Berater des Chefs des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, sieht eine ursächliche Verbindung zwischen dem Goldstein-Attentat und den späteren Anschlägen der Hamas. Zuvor habe sich Hamas auferlegt, nicht gegen Unbeteiligte vorzugehen. Das habe sich nach Goldsteins Morden geändert.(4)
Ultra-Othodoxe sprachen das hässliche Wort “rodef” aus. Rodef kann einer sein, der Teile Israels dem Feind überlässt.(5) Auf so einen muß das halachische Gesetz din rodef angewendet werden: So einer muß mit allen Mitteln an seinem Tun gehindert werden. Notfalls durch Tötung. Das übernahm der ultra-orthodoxe Jura-Student Yigal Amir. Rabin hatte am 4. November 1995 auf einer Friedensdemonstration in Tel Aviv gesprochen, als er von Amir niedergeschossen wurde. Zur Rechtfertigung seiner Tat gab Amir später an, Rabin sei ein rodef gewesen.
Der Friedensprozess, der vielleicht von Anfang an eine Farce war, kam bald zum Erliegen.
Leben in der Blase
Nach dem Ersten Weltkrieg, während der britischen Mandatszeit, schrieb der damalige britische Hochkommissar Sir Herbert Samuel über das jüdische Palästina:(6)
Als ich 1920 das Jisrael-Tal zum ersten mal sah, gab es hier nichts außer vier oder fünf kleinen arabischen Dörfern. Ansonsten war das Gebiet völlig unbewohnt. Kein Haus, kein Baum.
Jetzt gibt es hier zwanzig Schulen, eine landwirtschaftliche Ausbildungsstätte für Frauen in einem Dorf, ein Krankenhaus in einem anderen Dorf.
Alle Sümpfe und Moore sind trocken gelegt. Das ganze Tal ist nicht mehr wiederzuerkennen.
Im Frühling blüht alles, man sieht große Felder. Nicht zu glauben, dass hier vor fünf Jahren noch Wildnis war.
Nicht zu glauben, was aus der Vision Israels wurde.
Heute lebt Israel in einer Blase. Man will nur die Fortschritte und den Wohlstand sehen. Im Heute leben. Gut leben. Man will sich der “Ursünde Israels” (Danny Rabinowitz) nicht stellen, eine einheimische Bevölkerung enteignet und vertrieben zu haben. Dass man sie heute einkerkert in Gaza und in der Westbank drangsaliert durch rund 300 Tausend Siedler.
Israel ist an seinem 60.ten Geburtstag, im Jahr 2008, vor allem dies: Eine wüste Kolonialmacht. Ohne Vision.
Quo vadis, Israel?
— Schlesinger
(1) Vgl. Zertal /Eldar, Die Herren des Landes, Israel und die Siedlerbewegung seit 1967, DVA, 2007, S. 89
(2) Zit. aus: Henry M. Broder, Die Irren von Zion, dtv, München 2007, S. 86
(3) Vgl. Zertal /Eldar, S. 149f.
(4) Der Jerusalemer Rabbi Avigdor Nebenzahl: “Anyone ceding parts of the Land of Israel to gentiles is, from a halakhic point of view, subject to din rodef.”
Photo: Siedlung Westbank (Flickr CC Lizenz) / Bettsy 1970 Photo: Vertreibung aus Faluja 1948 (Flickr CC Lizenz) / falasteenya
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