Die Polizisten des berüchtigten Hamburger Polizeibataillons 101 wüteten grausam in Durchführung ihres Auftrags. Sie waren Teil der sogenannten Sondereinheiten, die für die Liquidationen von Juden in den vom Reich besetzten “Ostgebieten” zuständig waren.
Die Männer, die für diese Aufgabe abkommandiert wurden, waren zuvor ganz normale Polizisten in Hamburg. Mit ihrem neuen Auftrag wurden sie zu Herren über Leben und Tod. Den Männern wurde erst ein Tag vor ihrem ersten Einsatz mitgeteilt, worin genau ihre Aufgabe bestehen würde. Der Bataillonskommandeur bot dabei an, dass jeder zurücktreten und sich versetzen lassen könne, der meint der Sache nicht gewachsen zu sein.
Von den 500 Angehörigen des Bataillons nahmen 12 Männer das Angebot an. Sie erlitten dadurch keinerlei Nachteile.
Die anderen liquidierten später Zehntausende.[1]
Manche kamen ihrer “Pflicht” mit Genugtuung nach. Manche erfüllten nur die Befehle. Manche verabscheuten, was sie taten, taten es aber dennoch.
Die Gründe für ihr Tun sind vielfältig: Blinder Gehorsam. Unbegründete, aber dennoch vorhandene Angst, vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden. Pervertierter Patriotismus. Sadismus. Gruppenzwang. Karrieredenken. Feigheit. Opportunismus. Gleichgültigkeit. Fühllosigkeit.
Ganz normale Menschen. Ganz normale Männer.
Männer? Sage niemand, solche Untaten könnten nur von Männern durchgeführt werden. Bei Frauen verhält es sich nicht anders. Man lese die Briefe der Offiziers- und Unteroffiziers-Ehefrauen, deren Männer in Konzentrationslagern eingesetzt waren. Sie sahen genau, was sich in den Lagern abspielte. Wußten, was ihre Männer taten. Und trotzdem: Für die meisten der Frauen war es so etwas wie ein normaler Alltag. Von Belastung durch den Horror nebenan ist in ihren Briefen nichts zu spüren. Oft traf das gegenteil zu: Sie taten alles, ihren Männern Kraft zu geben, diese schwere Pflicht durchzustehen.
Der Mensch braucht, ganz allgemein gesprochen und neben anderen Dingen, einen Identifikationsrahmen.
Wird ihm ein Rahmen geboten, und er findet sich in diesem Rahmen nicht allein, bestehen gute Chancen, dass der Rahmen akzeptiert wird.
Das beginnt im privaten Kreis, geht über größere Bezüge wie Verwandtschaft, Freundeskreis oder Firma, bis hin zu Religion, Gesellschaft und Staat.
Wird ein Handlungsrahmen akzeptiert handelt der Einzelne innerhalb dieses Rahmens gemäß der Bandbreite, die ihm seine Natur plus Sozialisation vorgibt.
Der große Rahmen, der damals hinter den Hamburger Polizisten stand, hieß Nationalsozialismus, oder trug den Namen Adolf Hitler oder bestand – um es vom Versprechen her zu formulieren – aus der Verheißung des scheinbar glanzvollen “Dritten Reiches”.
Einem bemerkenswert großen Teil des Volkes bot dieser Handlungsrahmen die Möglichkeit, ihrer ganz anderen Natur mehr oder weniger freien Lauf zu lassen.
Der Tod ist ein Meister aus Deutschland von Paul Celan mag ein griffiger Titel sein, hat aber mit der menschlichen Wirklichkeit nichts zu tun. Die Bestie, die zum Vorschein kommt, nur weil sie zum Vorschein kommen darf, ist universell.
Welcher deutsche Bahnangestellte im Begleitpersonal der Transporte nach Treblinka hätte von sich gesagt, er sei eine Bestie? Keiner – er tat es aus nationalem Pflichtgefühl.
Welcher Iraner hätte im fürchterlichen Krieg gegen den Irak ab 1980 von sich gesagt er sei eine Bestie, weil er im Namen der iranischen Revolution und im Auftrag des großen Ajathollah Khomeini Kinder in Minenfelder laufen ließ, um sie für die eigenen Soldaten begehbar zu machen? Wohl wenige – es ging um den wahren Glauben.
Welcher Hindu hätte sich im Unabhängigkeitskampf Indiens 1948 – also noch zu Lebzeiten des stets um Gewaltlosigkeit ringenden Ghandi – sagen lassen er sei eine Bestie, weil er Moslems vertrieben, mißhandelt und getötet hat (und vice versa)? Wohl keiner – er tat es aus nationaler Ehre.
Welcher US-Soldat in Baghram oder Abu Ghraib hätte sich als Bestie bezeichnet? Eher keiner – schließlich hatten sie es mit den “Schlimmsten der Schlimmen” zu tun – so wurde es ihnen von ihrem eigenen Präsidenten gesagt. Solche Bestien zu demütigen, zu mißhandeln, zu foltern und zu töten konnte nichts Schlimmes sein.
Welcher RAF-Terrorist hätte zugegeben, er sei eine Bestie, weil er Unschuldige getötet hat? Keiner. Es ging um die glorreiche Revolution.
Waren die Angehörigen der Roten Khmer Bestien, als sie Hunderttausende ihrer Landsleute in den killing fields mit Plastiktüten erstickten und zum Verwesen liegen liessen? Nein, nicht aus ihrer Sicht. Sie taten es der gerechteren kommunistischen Zukunft Kambodschas wegen.
Unendlich lange ließe sich diese Liste fortsetzen.
Trotz aller unterschiedlichen Zeiten, Motive und Umstände ähneln sich die Ereignisse in einem: Es geht immer nur um den “ganz normalen Menschen”. Unabhängig von Stellung, Rang, Geschlecht, Einkommen, Parteizugehörigkeit, Religion. Das alles sind nur Etiketten.
Sokrates’ Erkenne Dich selbst ist kaum möglich
Sokrates’ Erkenne Dich selbst! ist nach wie vor einer der beliebtesten philosophischen Sätze.
Leider ist dieser Satz schwer haltbar, wie nach den französischen “Skeptikern” Montaigne, La Rochefaucauld auch von Nietzsche, Schopenhauer und Freud völlig zurecht festgestellt wurde.
Erkenne Dich selbst hätte zur Voraussetzung, dass es so etwas gibt wie ein wahres Ich. Das aber ist eine Illusion. Es gibt nur eins – den empirischen Menschen, wie Schopenhauer sagte.
Das heißt: Was ein Mensch ist, wer ein Mensch ist, wie er ist, ergibt sich nur aus seinen realen Aktionen in einer konkreten Situation.
Einer mag fest davon überzeugt sein, dieses oder jenes zu sein – ein Demokrat, ein Christ, ein Moslem, ein guter Mensch, ein toleranter Mensch, ein aufrechter Patriot etc.pp.
Der Katholik, der Protestant, der Atheist im Hamburger Polizeibataillon, der Arme, Gutsituierte oder Wohlhabende darin, der Ledige oder der Verheiratete. Jeder Einzelne hätte vor seinem Einsatz beteuert, er sei ein guter Mensch. Dann kam der Einsatz, zu dem niemand gezwungen wurde. Und plötzlich wurde aus dem normalen Menschen ein Mörder. Einfach so. Ohne großen Zwang, ohne Nötigung, nicht durch eine vorgehaltene Waffe.
Das Erkenne Dich selbst ist nur eine schöne Idee. Allerdings eine, die eine Funktion erfüllt: Das Selbstwertgefühl des Einzelnen ein wenig zu erhöhen. Schließlich denkt man über sich nach, versucht sich zu verstehen, geht in sich, will sich damit auch irgendwie verbessern. Alles Dinge, die allgemein als gut verstanden werden. Deshalb hat das Erkenne Dich selbst einen guten Ruf. Aber wie das so ist mit einem Ruf: Er ist höchstens Indiz, war aber noch nie Beleg für die dahinter liegende Wirklichkeit.
Montaigne sagt vollkommen zu Recht:
Wenn ich denke, habe ich mich, genau genommen, nicht ganz in der Gewalt, ich verfüge nicht selbst über meine Kräfte: der Zufall tut dabei mehr als ich, infolge der Anregung durch eine bestimmte Situation.[2]
Der Mensch schützt sich durch Selbstbetrug
Die Erklärung, warum man in einer bestimmten Situation so oder anderes gehandelt hat, erfolgt durch das Ich erst im Nahhinein. Das Ich interpretiert die eigene Handlung in aller Regel so, dass sie sich in die bisherige Selbstwahrnehmung möglichst nahtlos einbauen lässt. Man will integer sein. Aus einem Guß. Seiner selbst sicher sein.
Das versteht Nietzsche unter der Lebensdienlichkeit unserer Selbst-Lügen. Was immer wir uns für unsere Handlungen zurechtdenken – es dient unserem Selbstschutz.
Was wir insgesamt als Reaktions- oder Handlungs-Möglichkeiten angesichts einer bestimmten Situation in uns tragen, bleibt uns in hohem Maß verschlossen.
Bezogen auf den Alltag mag sich das seltsam anhören.
Lebe ich nicht immerfort mein normales Leben? Richtig: Wenn sich die Umgebung und damit die auf einen Menschen wirkenden Einflüsse nicht oder nur geringfügig ändern, ändern sich auch dessen konkreten Handlungsweisen in der Regel kaum. Warum auch?
Daraus resultiert der Trugschluß für sich und andere, man sei ganz gewiß dies oder jenes. Immerhin hat man sich selbst unzählige male gleichförmig erlebt. Dann muss man also genau der sein, als den man sich so häufig selbst erlebt hat. Nicht wahr?
Solange die Gleichförmigkeit einer Umgebung (das ist nichts anderes als der sprichwörtliche Alltag) fortbesteht, kann man mit Montaigne sagen:
… ich denke mir, die Gewohnheit tut alles, sie vermag alles;
Pindar nennt sie mit Recht “Königin und Herrscherin der Welt” [3]
Der Mensch miß-interpretiert sein gewöhnliches Ich insofern als seine wirkliches Ich, seine ganze Natur.
Dabei spielt keine Rolle, ob diese Natur die eines Schlossers, Managers, Bauern, Bankers, Soldaten oder einer Hausfrau, Sekretärin, Unternehmerin ist. Relativ gleichförmig sind alle in ihrem Alltag, denn nichts anderes bedeutet “Alltag”: die relative Gleichförmigkeit der Tage.
Mehr noch. Der Mensch macht seine Routinen nicht nur zu seiner Natur, sondern ist potentiell dazu bereit, sich in einen höheren Rahmen zu integrieren. Gewissermaßen zur Weihe seines allzu normalen Alltags.
Damit bleibt der Alltagsmensch nicht nur Schlosser, Manager, Sekretärin usf., sondern wird mehr: echter Demokrat, wahrer Christ, stolzer Muslim, visionärer Sozialist etc.pp.
Was immer ihn nun im Alltag auch bewegen mag, er kann sich stets (auch) sehen als einer, der als Christ, Muslim etc.pp. handelt.
Das ist weitaus mehr und edler als sagen wir ein zum Sprechen befähigter Hund über seine Aktionen sagen könnte. Würde man einen Hund fragen, warum er beim Schnüffeln an einem Baum mit dem Schwanz wedelt, müßte er gradheraus sagen, dass er eben gar nicht anders könne – das sei seine Natur, sein Instinkt, sein Automatismus. Das käme den meisten Menschen mit Blick auf sich selbst sehr geringwertig vor.
Sage niemand, es sein nichts dabei höheren Idealen folgen zu wollen, sich mit ihnen zu identifizieren. Im Namen ausnahmslos aller höheren Ideale wurden die schrecklichsten Verbrechen begangen: Die christlichen Kreuzzüge (deus lo vult – Gott will es!), die Übertragung von amerikanischer Demokratie auf den Irak, des wahren Sozialmus durch die Sowjets.
Das ist die einfache Wahrheit: Der Mensch ist nicht, was er zu sein glaubt. Er ist das, was er jeweils tut.
Die Polizisten des Polizeibataillons 101 tatsächlich zunächst nur gewöhnliche Beamte. Sie habensich als Christen, Familienvater etc. gesehen. Ihre ganze Natur wurde nie getestet. In Polen wurde sie es.
Und alles, was sie sich zuvor als Fundament für ihr Dasein zurecht gelegt haben: das Bild vom pflichtbewußten Beamten, vom Staatsbürger, vom Christen, fiel wie ein Kartenhaus zusammen – selbstredend nur in der Wirklichkeit, nicht in deren Selbstwahrnehmung.
Wenige haben die Natur des Menschen besser erkannt als Nietzsche, mit dessen Einsichten sich dieses Phänomen mühelos erklären läßt:**
Die Bestie in uns will belogen werden;
Moral ist Notlüge, damit wir von ihr [der Bestie] nicht zerrissen werden.
Sind daher alle Menschen im Grunde schlecht? Alle insgeheim Bestien? Nein. Das haben auch die oben genannten Skeptiker oder Nietzsche nicht behauptet. Es gibt so etwas wie “anständige Menschen” – weil sie es von Natur aus sind, und sogar bleiben angesichts eines Einsatzbefehls in Polen. Solche guten Menschen sind aber nicht gut – nochmal! – weil sie es von sich selbst dachten oder behaupteten, sondern weil sich diese Natur auch unter anderen Bedingungen zeigte.
Wie viele Bestien unter uns schlummern – und wie viele sind es schon im Kleinen, zuhause oder am Arbeitsplatz, mit den dort jeweils zulässigen Mitteln – ist eine mühsame Frage, die zu erörtern keinen Nutzen hat. Es genügt mit Blick auf die wenigen zuvor genannten Beispiele die Feststellung, dass es immer viel mehr sind, als man sich im Alltag vorstellen kann.
Statt mit Sokrates sollte man die unendlich erkentnisreichere Nietzsche-Variante von Erkenne Dich selbst annehmen:
Bedenke, dass Du in Wahrheit ein ganz anderer sein könntest, als Du aus Deinem bisherigen Leben zu erfahren geglaubt hast.
Und so liegt auch in all dem ein Grund, warum es niemals, niemals so etwas wie Frieden auf Erden geben wird. Die unbekannte, unerkennbare Natur des Menschen verhindert es.
All das ist kein Grund für Fatalismus.
Jeder stehe für seine Sache ein. Was bleibt auch anderes übrig.
—
[1] Christopher Browning, Ganz normale Männer – Das Reserve-Polizeibataillon 101
[2] Montaigne, Die Essays, Erstes Buch, 10. Kapitel
[3] Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches
[4] Montaigne, Die Essays, Erstes Buch, 25. Kapitel
[5] Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Kap. 73
* = z.B. die zynische Politik Dick Cheneys und Donald Rumsfeld in bezug auf die Behandlung von mutmaßlichen Terroristen; z.B. die zynischen Stillhaltebefehle von Verteidigungsminister Ariel Scharon an seine Einheiten in Beirut 1982 während den unter israelischer “Aufsicht” durchgeführten Massakern von Sabra und Schatila durch libanesiche Milizen.
** Ersetze Moral fallweise mit “Glaube”, “Überzeugung”, “Weltanschauung” etc.pp.