Kaniuk war ein Wanderer zwischen den jüdisch-deutschen Welten. Einer, der auf seiner Wanderschaft den Blick zurück nicht gescheut hat. Auch den schmerzhaften nicht.
Das ist im Grunde sein Thema als Schriftsteller, und vielleicht das Thema seines Lebens:
Ich fühle mich mehr wie ein deutscher Jude als wie ein Israeli. Dabei bin ich weder in Deutschland geboren, noch spreche ich die Sprache. Aber wenn ich nach Berlin komme, habe ich das Gefühl, das ist meine Heimat.
So Kaniuk in einem Interview der ZEIT. Da war keine Koketterie, keine Wunschvorstellung dabei. Nach der Lektüre des letzten Berliners war mir klar, dass Kaniuk mehr Deutscher war, als ich es jemals sein werde. Egal, ob es um Berliner Erbsensuppe oder um Schumann-Konzerte, um Grass-Bücher oder um Heinrich Heine geht. Um wieviel mehr muss jemand wie Kaniuk den Verlust spüren, wenn sich diese Heimat entfremdet hat? Wenn sie da ist und doch nicht mehr da ist.
In Israel gibt es seit den Gründertagen eine Bewegung, die mit “Liebe zum Land” umschrieben werden kann.* Sie soll eine innige Beziehung zwischen Land und Leuten herstellen und hat in dieser Hinsicht viel erreicht. Kaniuk konnte – selbst als überzeugter Zionist – diese innige Beziehung nie so vollkommen empfinden, wie er sie sich wohl gewünscht hat:
Ich liebe Israel und auch die jüdische Kultur und möchte ein Teil davon sein. Ich will nur nicht gezwungen werden, das in einer ganz bestimmten Art und Weise zu tun.
Die innige Beziehung seines Vaters zur deutschen Kultur jedenfalls hat sich auf den Sohn übertragen.* Seitdem haderte Kaniuk mit dieser doppelten Verbundenheit zu Israel und Deutschland.
Wie aber kann man sich Deutschland und den Deutschen verbunden fühlen, wenn dieses Volk das denkbar grausamste Verbrechen an den Seinen verübt hat?
Wie entstand aus dieser Kultur die industrielle Todemaschinerie? Juden und Deutsche, die beiden Völker, die sich dieselbe Frage stellen, haben keine Antwort darauf.
Irgendwann begann Kaniuk Deutschland zu bereisen. Aber er, der einerseits so gerne eintauchen wollte in das “bessere Deutschland”, und andererseits sehen wollte ob sich dieses Land seiner Verantwortung stellt, hat viele dutzend Situationen erleben müssen, die von Ignoranz zeugten, von Fühllosigkeit, Abwehr, Entschuldigung, Verdrängung und Gegenangriff.
Auf einer Buchvorstellung wurde er irrtümlich als Israelkritiker eingeladen. Nun war Kaniuk zwar Linker, aber auch überzeugter Zionist im ursprünglichen Sinn (ja, Linker und Zionist sein, das geht). Auf den Büchertischen des Veranstaltungsorts lagen rassistische und antiisraelische Werke. Notwendig musste es zu einem Eklat kommen.
Im Zug traf er einen alten Mann, der ihm gut gelaunt erzählte, wie er als Jüngling zu einem glühenden Nationalsozialisten wurde. Wie ihn die Lagerromatik begeisterte, die schwarz polierten Stiefel, die Fackelumzüge. Kaniuk war beeindruckt, wie immerhin ehrlich sich dieser Mensch gegeben hat. Und sicher, man kann nicht jedem jungen Burschen zur Last legen, sich für diese Dinge begeistert zu haben. Aber ein bitteres Gefühl empfand Kaniuk, und muss jeder empfinden, wenn so jemand auch im Nachhinein keine Spur von Unbehagen zeigt angesichts der Teilnahme an einer insgesamt monströsen Bewegung.
Zutiefst enttäuscht war Kaniuk vom Verlauf seiner öffentlichen Debatte mit Günter Grass, in der es um die Haltung Israels im ersten Golfkrieg ging. Die deutsche Linke – und mit ihr Grass – hatte Israel kritisiert, den amerikanischen Desert Storm zu unterstützen, und sei es nur mit Worten. Grass war in jener Debatte rhetorisch überlegen, stellt Kaniuk fest. Nur: Der Deutsche zeigte keinerlei Mitgefühl für die bedrohliche Lage, in der sich Israel damals befand. Immerhin gingen Raketen Saddam Husseins auf das Land nieder, und die Drohung mit einem Giftgasangriff stand im Raum. Grass bog die Debatte über den Irak stets um in eine Debatte über das Verhältnis der Israelis zu den Palästinensern. Das brachte Kaniuk so in Rage, dass er Grass entnervt entgegenschleuderte, Israelis könnten jeden morgen palästinensische Babies zum Frühstück verspeisen, ohne dass die Deutschen das etwas angehen dürfe. Das war eine unkluge und grobe Bemerkung, richtig, aber verständlich allemal.
Neben solchen Episoden schildert Kaniuk auch bessere Begegnungen. Die mit einer evangelischen Pfarrerin, oder die mit Wolf Biermann, oder die mit dem bedrückten Mann, der ihm eine alte verbogene Gabel mit dem Hinweis auf den Tisch legt, sie würde ihm, Kaniuk, gehören, und sie stamme aus “Kanada”, der damaligen Lagerhalle in Auschwitz, in der die geraubten Gegenstände der Häftlinge waren. Oder nicht zuletzt die mit dem deutschjüdischen Lebemann und Berliner Diskothekenkönig Rolf Schimon Eden, der trotz allem imstande war sein eigenes Leben in vollen Zügen zu leben.
Kaniuks Bestandsaufnahme mag nicht repräsentativ sein. Sie mag unsystematisch sein. Man mag sich an bestimmten Unschärfen stören. Das alles ändert nichts daran, dass Der letzte Berliner ein wichtiger Beitrag zur neueren deutsch-jüdischen Geschichte ist. Denn da hat einer mit Herzblut und mit Schmerz und mit Empathie geschrieben, nicht wie ein Broder, der den Holocaust und den Umgang der verkorksten Deutschen damit geradezu geniesserisch und mit einem Maximum an zynischen Effekten schildert.
Kaniuk starb vor vier Wochen. Es würde ihm wohl gefallen, als jüdischer Berliner in Erinnerung zu bleiben, und wie könnte das einfacher sein, als seine Bücher, als dieses Buch zu lesen?