Wir sehen den Buben Rudolf Höß.
Er wächst in einem beschaulichen, gut bürgerlichen Haushalt auf.
Zuerst im wohlhabenden Baden-Baden, später in Mannheim.
Der Vater des Jungen ist katholischer Geistlicher.
Der Vater kümmert sich – genau so wie die Mutter – stets um den Sohn und die beiden Töchter.
Der Sohn soll ebenfalls Priester werden.
Er genießt eine gute Schulausbildung, bringt gute Noten nach Hause und kümmert sich um sein Pferd.
Die katholische Erziehung und das bürgerliche Umfeld würden aus dem Jungen Rudolf Höß einen rechtschaffenen Mann machen. So viel darf man erwarten.
Wir lesen in der Auto-Biografie dieses Mannes:*
Durch das Gelübde meines Vaters, wonach ich Geistlicher werden sollte, stand mein Lebensberuf fest vorge-zeichnet. Meine ganze Erziehung war darauf abgestellt. Ich wurde von meinem Vater nach strengen militärischen Grundsätzen erzogen.
Dazu die tiefreligiöse Atmosphäre in unserer Familie. Mein Vater war fanatischer Katholik. Während meines Lebens in Baden-Baden sah ich meinen Vater selten, da er meist auf Reisen oder Monate hindurch an anderen Orten tätig war.
Dies änderte sich in Mannheim. Mein Vater fand da doch fast täglich Zeit, sich mit mir zu beschäftigen, sei es um meine Schularbeiten zu sehen oder mit mir über meinen zukünftigen Beruf zu sprechen.
Am liebsten waren mir doch seine Erzählungen aus seiner Dienstzeit in Ostafrika, seine Schilderungen über die Kämpfe mit den aufständischen Eingeborenen, deren Leben und Treiben und ihrem finsteren Götzenkult.
Mit glühender Begeisterung hörte ich zu, wenn er von der segensreichen und zivilisatorischen Tätigkeit der Missions-Gesellschaften sprach. Es stand für mich fest, daß ich unbedingt Missionar würde und dann ins dunkelste Afrika, möglichst mitten in den finstersten Urwald käme.
Besondere Festtage waren für mich, wenn zu uns einer der alten, bärtigen Afrikaner-Patres, die mein Vater aus Ostafrika kannte, zu Besuch kam. Da wich ich nicht, um ja kein Wort der Unterhaltung zu verlieren. Ja, ich vergaß sogar meinen Hans darüber. Meine Eltern führten ein sehr gastliches Haus, obwohl sie selbst kaum zu Gesellschaften ausgingen.
In der Hauptsache verkehrten Geistliche aus allen Kreisen bei uns. Mein Vater wurde im Laufe der Jahre immer religiöser. Sooft es ihm seine Zeit erlaubte, fuhr er mit mir zu all den Wallfahrtsstätten und Gnadenorten meiner Heimat, sowohl nach Einsiedeln in der Schweiz wie nach Lourdes in Frankreich.
Inbrünstig erflehte er den Segen des Himmels für mich, daß ich dereinst ein gottbegnadeter Priester würde. Ich selbst war auch tief gläubig, soweit man dies als Knabe in den Jahren sein kann, und nahm es mit meinen religiösen Pflichten sehr ernst.
Ich betete in wahrhaft kindlichem Ernst und war sehr eifrig als Ministrant tätig.
Von meinen Eltern war ich so erzogen, daß ich allen Erwachsenen und besonders Älteren mit Achtung und Ehrerbietung zu begegnen hätte, ganz gleich aus welchen Kreisen sie kämen.
Überall, wo es notwendig ist, behilflich zu sein, wurde mir zur obersten Pflicht gemacht.
Aus dem katholischen Buben Rudolf Höß wurde SS-Obersturmbannführer Höß, der Lagerkommandant des Vernichtungslagers Auschwitz.
Höß war bis zu seiner Hinrichtung zutiefst davon überzeugt, nur seine “Pflicht” erfüllt zu haben.
Mehr noch: Er gab zu Protokoll, seine “Aufgabe” nicht nur so gut wie möglich organisiert zu haben – damit also vorbildlich gehandelt zu haben! – sondern sie auch besonders “moralisch” durchgeführt zu haben.
Die Anwendung des Giftgases Zyklon B war nach Darstellung von Höß eine humane Maßnahme: Der jüdische Staatsfeind mußte so oder so beseitigt werden. Zuvor habe es Massenerschießungen gegeben oder Tötungen durch Diesel-Abgase. Zyklon B sei weit weniger grausam gewesen.
Diesem guten und feinfühligem Menschen – so Höß’ Selbstbeschreibung – ist seine schwere Aufgabe zwischendurch auch zur Belastung geworden. Daher mußte er sich Ausgleich verschaffen, entweder bei seinen Pferden oder bei einem Klavierkonzert.
Höß hatte die Ideologie seines Vorgesetzten Heinrich Himmler vollständig verinnerlicht: tun, was zu tun ist und dabei anständig zu bleiben. Vorbildliches Pflichtbewußtsein und Einsatz für Volk und Vaterland bis zur Selbstaufgabe.
Die Schlußfolgerung ist einfach.
Religion, Religiösität, Geistigkeit, Spiritualität, Bildung, Kultiviertheit waren noch nie Garant für ein anständiges Leben. Kein Schutz gegen die eigene Natur.
Aber schon immer äußerst nützlich, anderen und sich selbst zu versichern wie gut man doch ist.
Wie sagte Schopenhauer?
Wenn Erziehung und Ermahnung irgend etwas fruchteten, wie könnte dann Nero ein Zögling Senecas seyn?
Muss noch dazu gesagt werden, wie allgemein gültig das ist? Dass es für alle Religionen gilt, für alle Kulturkreise, für alle Zeiten?
— Schlesinger
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Photo Höß: Wikimedia Public Domain
* Übernommen aus: Kommandant in Auschwitz, dtv TB, München 1963, S.24f.