Sehr geehrter Herr Hochhuth,
Unser Land steckt inmitten der schwersten ökonomischen und geistigen Krise seit Ende des Zweiten Weltkrieges, und Sie, der Doyen unter den deutschen Dramatikern – schweigen.
Statt Ihrer gottverdammten Pflicht nachzukommen, diese Krise, nein: Diesen höchst gefährlichen Zustand Deutschlands in eine radikale dramatische Form zu bringen und damit einen weithin hörbaren, unüberhörbaren Paukenschlag zu produzieren, verstricken Sie sich in ein langwieriges, kraftraubendes Gezänk um das Berliner Ensemble. Das ist unerhört, und es macht mich wütend.
Sie hatten mit Ihrem großartigen Beitrag “McKinsey kommt” bereits ein Präludium zur aktuellen Lage verfasst.
Darin führten Sie Zitate wie die Folgenden an:
“Zusammen mit den Weltmärkten entsteht eine neue, globalisierte Herrenschicht, die über den Rest der Menschen Macht besitzt wie früher ein Gutsbesitzer über seine Hintersassen”,
“Gegen den Branchentrend erhöht der Branchenprimus Deutsche Bank im 2.Quartal den Gewinn vor Steuern auf 2,2 Milliarden Euro. Die verbesserte Ertragslage resultiert in erster Linie aus erzielten Kosteneinsparungen. Dabei spielt auch der massive Stellenabbau ein Rolle”, oder, wichtiger denn je:
“unsere Demokratie, die an einem schweren Geburtsfehler leidet: sie bestimmt nur die staatliche, nicht auch die wirtschaftliche Ordnung. Die Bürgerinnen und Bürger sind nur vor den staatlichen Gesetzen gleich, vor den ‘Gesetzen’ einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung sind Sie jedoch krass ungleich. Hier entscheidet nicht die Mehrheit, sondern das Eigentum. Deshalb war unsere bürgerliche Demokratie von Anfang an nur eine halbe. Und diese Hälfte schrumpft zusehends, je mehr die undemokratische Wirtschaft die demokratische Politik dominiert.”
Aus diesem höchst kritischen Material haben Sie so nötig hellsichtige, aufrüttelnde und auch aufrührerische Sätze geschmiedet wie diese:
“HILDE:
Die vor einem halben Jahrhundert
das Grundgesetz schrieben, können
in ihrer Angst vor einen neuen politischen Diktatur eine
wirtschaftliche überhaupt nicht im Blick gehabt haben,
denn die Wirtschaft lag in Trümmern…”
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“MEDIENBERATER:
Warum wollen Sie dann diese 600-Leute-Bude dichtmachen?
PRÄSIDENT:
Die wird doch nie rentabel.
Ist ja nicht unser einziger Fuß in der Schweiz.
Wir sollen 250 Millionen einsparen…
Solange uns die Regierungen die Steuerschraube lockern,
wenn wir Arbeitsplätze killen – denn wie sonst
sind Rückstellungen möglich für geplante Abfindungen der Entlassenen…
MEDIENBERATER:
Herr Präsident, entschuldigen Sie.
Aber Entlassene sollten Sie niemals sagen, nicht mal
im kleinen Kreis. …
Sie entlassen nicht 600 Dörfler, sie setzen Sie frei,
sich bessere Jobs zu suchen!”
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“HILDE (Bourdieu zitierend)
Dieses Europa hat keine Utopie als jene,
die sich aus den Unternehmensbilanzen ergibt!
Kein positives Projekt, nur das der shareholders,
denen es alleine um maximale Renditen geht;
denen Bildung und Kultur nur als Produktionsfaktor
in den Sinn kommen…”
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Lieber Herr Hochhuth, das war einmal mehr in die richtige Form gegossen. Aber ich wiederhole mich: Es ist längst zu wenig, es konnte nur ein Vorspiel fürs Heute sein.
Sie müssen nun den Hauptakt vorlegen, und müssen ihn für alle Welt sichtbar vorlegen.
Waren die Mißstände, die Sie damals zurecht angepangert haben noch weitgehend latent, sind sie heute längst für weite Teile der Bevölkerung unmittelbar wirksam, zerstörerisch wirksam und für die nächste Zukuft zerstörerisch wirksam.
Daher ist eine Fortführung Ihres Werkes vonnöten, das dieser jüngsten dramatischen Lage gerecht wird.
Wir haben es inzwischen nicht mehr mit einer theoretischen, sondern mit einer handfesten Gefährdung der Demokratie zu tun. Alle Fakten liegen auf dem Tisch. Rohmaterial liegt mehr vor, als man sich wünschen möchte.
So wie Sie damals mit dem “Stellvertreter” Deutschland und schließlich die Welt erschüttert haben über das Tun und vor allem das Nicht-Tun der Katholischen Kirche im Angesicht des Völkermordes, so stehen Sie heute in der Pflicht, die derzeitige übergroße Gefahr für unsere Gesellschaft so zu formulieren, wie möglicherweise nur Sie dazu in der Lage sind.
Viel und vielleicht alles wurde schon über die Krise gesagt. Doch verebben, versinken und versanden diese Beiträge in einem zähen, müden medialen Strom.
Sie sind in der Lage, hier einen qualitativ neuen Beitrag zu liefern. Und müssen es daher tun!
Der Ausgangspunkt für Ihren Hauptakt könnte Ihr Rückgriff auf den großen Jacob Burckhardt sein, den Sie in “McKinsey kommt” schon vorgenommen haben:
“Der Mord als Hilfmittel
Es liegt nahe, daß zunächst bei Abwesenheit aller legalen
Rechtsmittel, da man Richter in eigener Sache wird,
eine Regierung oder ein Individuum die Zernichtung
des Gegners unternimmt.”
Aus der aktuellen “Diskussion” zur Krise muss: Nein, zunächst keine Revolution, sondern ein nicht ignorierbarer Aufschrei werden.
Sie, Herr Hochhuth, müssen dazu die Vorlage liefern.
Ohne diesen Aufschrei, den Sie nicht ausformulieren, sondern provozieren, werden die Verursacher und Verantwortlichen unserer Lage die denkbaren, noch schlimmeren Konsequenzen nicht wahrhaben wollen, werden daher auch nicht einhalten, sondern fortfahren in ihrem weltfremden, gemeingefährlichen Tun:
Wir sind nicht blind für das, was in der Welt passiert, aber wir müssen auch fair gegenüber unseren Angestellten sein, die hervorragende Arbeit geleistet haben. Ich finde, dass die Öffentlichkeit unseren Erfolg nicht ausreichend honoriert.
Finanzchef David Viniar, Goldmann Sachs, als Rechtfertigung für die historisch höchsten Bonizahlungen, Oktober 2009
Bleibt es bei diesem obszönen Treiben, droht größeres Unheil als nur ein Aufschrei.
Verehrter Herr Hochhuth, wir warten auf Sie. Wir warten auf Ihre Umsetzung dieser Chance, mit der die Kultur nicht lediglich einen weiteren ästhetischen, sondern einen überaus reellen und zugleich bitter nötigen Beitrag zur Gesellschaft liefern könnte.
— Schlesinger
Bild: (c) courtesy Randall Stoltzfus: Bonfire (= Signalfeuer)