Ich war gerade in Hebron.
Das ist für Palästinenser ein rechtsfreier Raum.
Das ist ein Apartheid-Regime, für das es keinerlei Rechtfertigung gibt.
Das schreibt der SPD-Vorsitzende Gabriel am Mittwoch auf sein Facebook-Account:
Das entfachte einen Kommentarsturm, wie könnte es auch anders sein?
Die Kommentare gingen von Zustimmung (” Wer die Westbank besucht hat, weiß, dass Herr Gabriel nichts falsches gesagt hat.“) über Relativierung und Umkehrung (“wann werden die möchtegern “gutmenschen” begreifen das sie von den arabern von vorn bis hinten verarscht werden?!?“) bis hin zum unvermeidlichen “Antisemit!“
“Attila” rückt Herrn Gabriel gleich in die Liga Adolf Hitler, weil es anscheinend schon wieder um Vernichtung geht: ” Nu, was der österreichische Hobbymaler nicht ganz geschafft hat, wird der Rest auch nicht hinkriegen! Gute Nacht! ;-)”
Auch hübsch: “Was hatten Sie in Israel verloren, Herr Gabriel?” oder die Tiraden “Fat Nazi pig” oder “Heil mein Führer!“.
Israel: Die einzige Demokratie im Nahen Osten?
Ein Besatzungs-loyaler Kommentator will auf der Facebook-Seite von Gabriel zum Thema Apartheid aufklären:
“Die Apartheid in Südafrika bedeutete für die Schwarze Bevölkerung
-Kein aktives oder Passives Wahlrecht.
-Berufsverbot für diverese Bereiche, wie als Lehrer, Beamter, Polizist oder Armeeoffizier
-Kein Zugang zu höherer Bildung
-Rassentrennung im Öffentlichen Raum mit diversen Bewegungsverboten für Schwarze etc.
NICHTS davon trifft auf Israel zu. 20% der Israelischen Staatsbürger sind Muslime, diese haben:
-volle Staatsbürgerrechte
-stellen eigene Parteien in der Knesset
-sind in allen gesellschaftlichen Bereichen Vertreten.
Muslime stellen in Israel Beamte, Richter, Polizisten, Offiziere der IDF
-So ist z.B. einer der Richter am obersten Gerichtshof israels arabischer Muslim,
-Arabisch ist neben Hebräisch Amtssprache.”
Das mag formal oder auf dem Papier so sein, hat mit der Realität leider sehr wenig zu tun.
Volle Staatsbürgerrechte? Also so etwas wie das Recht auf freie Meinungsäußerung? Dann erinnern Sie als arabischer Israeli einmal an den “Nakba-Tag”, also an die Vertreibung der Araber 1948. Mit so einer freien Meinungsäußerung landen Sie in Israel im Gefängnis. Denn die Erinnerung an die Nakba ist laut neuestem israelischem Gesetz verboten.
Stellen eigene Parteien in der Knesset. Korrekt, die aber im Gegensatz zu den jüdischen Parteien vom Inlandsgeheimdienst Shin Bet überwacht werden und sich im übrigen zahllosen Anklagen gegenübersehen, damit sie den Ball schön flach halten. Der Abgeordnete Azmi Bishara hat es vorgezogen, aus seinem Urlaub nicht mehr nach Israel zurück zu kehren, da ihm mit hahnebüchenen Vorwürfe mit der Verhaftung gedroht wurde. Des weiteren ist es unausgesprochenes Gesetz in der Knesset, dass “arabische” Parteien niemals in eine Regierungskoalition eingeladen werden. Insofern ist die Teilhabe palästinensischer Parteien in der Knesset ein Feigenblatt.
Sind in allen gesellschaftlichen Bereichen vertreten. Diese Aussage ist fern jeder Realität. Die ganz große Mehrheit der Israelis will keine arabischen Israelis als Nachbarn, will und hat sie nicht als Arbeitskollegen und arabische Israelis in Management oder Führungspositionen in jüdischen Firmen sucht man vergebens. Sie finden israelische Araber auf den Baustellen, in der Landwirtschaft – sofern sie nicht fast umfassend von Asiaten ersetzt wurden -, und natürlich in ihren eigenen Läden.
Muslime stellen in Israel Beamte, Richter, Polizisten, Offiziere der IDF. Ja, es gibt da einen arabischen Offizier, das ging auch bei uns durch die Presse. Ansonsten sind arabische Israelis vom Wehrdienst “befreit”. Das ist aber im Gegensatz zu den ebenfalls befreiten Orthodoxen kein Vorzug, sondern Auagrenzung. Man will die “Fünfte Kolonne” nicht in der Armee haben. Im übrigen gibt es heillos unterrepräsentiert eine geringe Anzahl an Arabern im öffentlichen Dienst.
Arabisch ist neben Hebräisch Amtssprache. Noch. Und mehr geduldet als akzeptiert. Seit geraumer Zeit gibt es Bestrebungen in der Knesset arabisch als Amtssprache abzuschaffen.
Weitere Beispiele:
Landkauf: “arabische Gemeinden” in Israel unterliegen selbstverständlich den Bebauungsplänen der israelischen Behörden. In aller Regel erhält keine Gemeinde die Genehmigung ihr Gebiet weiter zu erschliessen. Das, was Netanjahu & Co. für ihre Siedlungen in der Westbank als Minimum fordern (“natürliches Wachstum”) verwehrt die israelische Politik ihren eigenen, nur eben arabischen Bürgern. Offiziell sieht es anders aus. Faktisch gehören rund 90% der Fläche Israels dem Staat (davon rund 13 Prozent dem Jewish National Fund; rechtlich eine eigenständige Institution, de facto aber unterliegt sie dem Primat der Politik). Der Rest des Landes ist Privatbesitz in jüdischer und arabischer Hand. Während der Staat Land an seine Bürger verpachtet (nie verkauft) darf der JNF Land nur an Juden verpachten. Demnach dürfen israelische Araber Land vom Staat pachten. Theoretisch.
Eine Heirat zwischen Arabern und Juden ist kraft des halachischen Gesetzes untersagt. Nun mag man einwenden dass in vielen muslimischen Ländern ebenfalls verboten ist, einen Angehörigen eines anderen Glaubens zu heiraten. Nur dann bezeichnet sich das Land auch nicht als Demokratie. Der korrekte Name für die Dominanz religiöser Regeln im Alltag der Bürger heißt Theokratie.
Man kann auch einen Blick auf die Ergebnisse der israelischen Orr-Kommission werfen, die eingesetzt wurde um zu erfahren wie es zur Tötung von 12 unbewaffneten arabisch-israelischen Demonstranten durch israelische Polizei im Jahr 2000 kam. Die Kommission kam u.a. zu dem Befund, dass die arabischen Bürger Israels diskriminiert und hinsichtlich der Ressourcenverteilung benachteiligt würden:
The 2003 report of the Orr Commission, which was established following the police killing of 12 Israeli-Arab demonstrators and a Palestinian in October 2000 stated that government handling of the Arab sector was “primarily neglectful and discriminatory,” was not sufficiently sensitive to Arab needs, and that the government did not allocate state resources equally. Consequently, “serious distress prevailed in the Arab sector…,” including poverty, unemployment, a shortage of land, serious problems in the education system, and substantially defective infrastructure. Problems also existed in the health and social services sectors.
Demokratie?* Teilhabe? Gleichberechtigung?
Auf dem Papier sieht es damit gut aus, und das wird von bestimmten Kreisen gerne herangezogen. Dass die Realität anders aussieht, kann man im weit entfernten Europa oder Amerika weniger gut erkennen.
Bei all dem geht es den israelischen Arabern noch relativ gut im Vergleich zu den Palästinensern in der besetzten Westbank, in der Siedler gegen sie tun und machen dürfen was sie wollen, und Grenzpolizei sowie Armee jeden Palästinenser nach Belieben und ohne Anklage in Arrest nehmen können (“Verwaltungshaft”, was in zahllosen Fällen getan wird).
Jedenfalls muss Gabriel rasch klar geworden sein, dass er ein enormes Risiko eingegangen ist. Man darf vermuten, dass er den Kommentar unter der Schwere des Eindrucks, den er vor Ort gewonnen hat spontan verfasst hat.
Die Formulierung die er dafür fand, würde beinahe jedem in dieser oder einer ähnlichen Form durch den Kopf gehen. Die übliche Vorsicht, die jeder Spitzenpolitiker walten lässt bei der Wahl seiner Worte hat schlicht deswegen nicht funktioniert, weil das Gesehene zu viel Ärger ausgelöst hat und nicht mehr gezügelt werden konnte.
Das ging übrigens dem ehemaligen Bundesarbeitsminister Norbert Blüm nicht anders. Als Blüm in Hebron war und zu sehen bekam was Gabriel jetzt sah, hat er vor laufender Kamera mit hochrotem Kopf geschimpft wie ein Rohrspatz.
Gabriel jedenfalls ist bereits heftig am Zurückrudern. Eine erste “Erklärung” lautete:
Die Situation für die Palästinenser in Hebron ist in der Tat schrecklich. Faktisch werden ihnen elementare Bürgerrechte vorenthalten.
Ich kann wirklich nur jedem empfehlen, dort mal hinzufahren und sich von den internationalen Beobachtern führen zu lassen. Auch Soldaten der israelischen Armee, die wir dort getroffen haben, finden die Verhältnisse unerträglich.
Behinderten Kindern wird mit ihren Müttern der freie Ausgang aus ihrem Haus in den eigenen Stadtteil nicht gewährt, nur weil sie Palästinenser sind. Demgegenüber wird aus den USA stammenden Siedlern mit wirklich extremen politischen Ansichten gestattet, aus ihren Häusern Abfälle und gefährliche Gegenstände auf die palästinensische Bevölkerung zu werfen. All das – um nur einige Beispiele zu nennen – hat für die palästinensische Bevölkerung im Gebiet Hebron einen rechtsfreien Raum entstehen lassen. Die Berichte der internationalen und neutralen Beobachter (TIPH) machen schlicht und ergreifend zornig.
Israels große Reputation, der einzige demokratische Staat im Nahen Osten zu sein, wird dadurch unterminiert. Für mich ist klar: Israel hat das Recht seine Existenz zu schützen und gerade wir Deutschen haben jeden Grund, das zu unterstützen. Heute und in Zukunft, denn Israel ist der einzige Staat der Welt, dessen Nachbarn sein Existenzrecht in Frage stellen. Meine Freunde spüren das seit Jahren täglich im Kibbuz Magen an der Grenze zu Gaza, wo die israelische Bevölkerung seit Jahren durch Raketenangriffe aus den palästinensischen Gebieten terrorisiert wird.
Aber das ist keine Rechtfertigung für die Fortsetzung einer Siedlungspolitik, wie man sie speziell in Hebron erlebt. Und das darf nicht dazu führen, dass wir es uns selbst verbieten, die Fehler der israelischen Regierung zu kritisieren.
Damit versucht Gabriel das “Apartheid” zu lindern, aber in der Sache will er gar nichts zurücknehmen. Dennoch wirken die politischen Kräfte: Offenbar hat Gabriel schon mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, telefoniert und ihm in einem freundschaftlichen Gespräch dargelegt, wie er die Sache “in Wirklichkeit” gemeint hat. Das kann Gabriel ruhig tun.
Wesentlich ist, dass ein Vorsitzender einer großen Partei endlich zu härteren Formulierungen gefunden hat. Dieser Satz von der Apartheid ist gewissermaßen nicht mehr zu beseitigen.
Die “Verteidiger” der Besatzungsmacht Israel haben einen taktischen Vorteil: Sie können darauf bauen, dass die absoluten Mehrheit hierzulande sich entweder nicht für die Details des Konflikts interessiert oder aber zu wenig verlässliche Information darüber erhält. Schließlich berichtet auch die sogenannte Qualitätspresse wie die Süddeutsche Zeitung regelmäßig irreführend.
Gabriel hat, wie man so schön sagt “eine Diskussion entfacht”, die erst jetzt richtig losgeht, nachdem sie Facebook verlassen hat und von den Medien flächendeckend aufgegriffen wurde.
Man darf gespannt sein wie er die Angelegenheit durchsteht.
Man darf noch mehr gespannt sein, ob die Diskussion unterm Strich für mehr Information zum Thema sorgt oder doch nur mehr ideologisiert. Letzteres ist zu vermuten.
— Schlesinger
Photo: Screenshot account Sigmar Gabriel, mit eigenem Kurzkommentar
* Dass Israel eine weitgehend funktionierende Demokratie für seine jüdischen Bürger ist, bleibt unbestritten. Sieht man ab von Verhältnissen, die denen bei uns ähneln: einer zunehmenden Ungleichverteilung gesellschaftlichen Vermögens etc.pp., das die Idee von Demokratie untergräbt. Das ist aber ein anderes Thema.