Ein ‘beschämendes Thema’ nannte der Kinderrechtsausschuß der Vereinten Nationen die Armut vieler Kinder im reichen Deutschland.
Immer mehr Kinder und Jugendliche leben an oder unter der Armutsgrenze, jedes achte Kind in Westdeutschland, jedes fünfte in Ostdeutschland. Jedes vierte Kind wohnt in beengten Verhältnissen.
1981 hat die Europäische Union die Armutsschwelle festgelegt: Arm ist, wer über weniger als fünfzig Prozent des durchschnittlichen Einkommens verfügt – und das sind nach Berich der Wohlfahrtsverbände 7,3 Millionen Menschen. Immer mehr arbeitslose Väter landen in der Sozialhilfe.
‘Kinder unter elf Jahren sind inzwischen diejenige Altersgruppe, die am häufigsten von Armut betroffen ist’, sagt der Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann.
Nun mögen Sozialpolitiker aus Union und FDP das Wort Armut im Zusammenhang mit Sozialhilfe nicht gern hören.
Von einer selbstverschuldeten Armut durch leichtfertige Schulden ist immer wieder die Rede, vom Mißbrauch der Sozialhilfe.
Den unaufhaltsamen Weg in die Zwei-Drittel- Gesellschaft gebe es nicht, sagt Bayerns Sozialministerin Barbara Stamm, die meisten Menschen würden nur kurz in die Sozialhilfe schlittern.
Sozialhilfe bedeute nicht Armut, sondern richte sich gegen die Armut, heißt es in einer Broschüre des Gesundheitsministeriums.
Sozialhilfe orientiere sich an einem ‘sozialkulturellen Mindeststandard, der die Teilnahme am Leben der Gesellschaft einschließt’.
Den Mißbrauch sehen die Sozialarbeiter fast nie, wohl aber immer mehr Familien aus dem Mittelstand, die in Armut geraten, die Wohnung verlieren.
Von einem Armutsschub sprechen die Sozialarbeiter, ‘die Armut nivelliert sich’.
Es sind ganz normale, intakte Familien mit kleinen Kindern, die unter Druck geraten. Die Männer haben eine feste Stellung, bringen 2200 oder 2300 Euro nach Hause, die Hälfte des Geldes geht in die Miete.
Wenn das Erziehungsgeld ausläuft, wenn die Frau nicht wieder arbeiten kann, weil der Kindergartenplatz fehlt – und normale Familien stehen auf den Wartelisten immer ganz hinten -, dann rutschen diese Familien ab. Sind Schulden da, und sei es nur das BAföG, kommen sie nicht mehr zurecht.
Wahrnehmung und Erleben von Armut sei kaum von der Befindlichkeit der Kinder zu trennen, warnen die Freien Wohlfahrtsverbände. Der SozialwissenschaftKlaus Hurrelmann steckt die Warnung sehr viel weiter. 3200 Kinder zwischen elf und 15 Jahren hat er nach ihrem Gesundheitszustand befragt.
Das Ergebnis hat Ärzte in Westfalen erschreckt. Nur jedes fünfte Kind aus den unteren Einkommensschichten, aber jedes zweite Kind mit wohlhabenden Eltern fühlt sich gesund. Je niedriger die Position in der Gesellschaft, desto niedriger ist die Qualität der Gesundheit.
Manche Kinder werden anfällig – für Drogen, für Diebstahl, für Banden.
Immer mehr Kinder gibt es, die immer mehr Luxus vor Augen haben, den sie nicht kaufen können.
‘Wenn man zu Kindern immer nein sagen muß, wird es gefährlich’, sagt eine Mutter.
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Am Namen Barbara Stamm wird man es gemerkt haben: Dieser Text ist nicht neu. Es handelt sich um Auszüge eines Artikels der Süddeutschen Zeitung vom 05.Januar 1996.*
Dieser Text ist daher als veraltet anzusehen.
Denn im 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vom Jänner diesen Jahres heißt es ja ausdrücklich:”
Der deutsche Sozialstaat wirkt
Er erfüllt seine sichernde und aktivierende Funktion.
Transferleistungen wie das Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe, Grundsicherung für Ältere und Erwerbsgeminderte, aber auch sozial flankierende Leistungen wie das Wohngeld sowie familienpolitische Leistungen wie das Kindergeld, der Kinderzuschlag oder das frühere Erziehungsgeld haben die Armutsrisikoquote in 2005 nach EU-SILC von 26% auf 13% halbiert.
Diese Quote ist im europäischen Vergleich eher niedrig – der europäische Durchschnitt liegt bei 16%.
Bei Kindern konnte das Armutsrisiko sogar auf fast ein Drittel von 34% auf 12% gesenkt werden.
Auch das Steuersystem trägt wesentlich zur Reduzierung der Ungleichheit von Einkommen bei.”
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Aus all dem läßt sich gewiß die hohe Zustimmungsrate zu Bundeskanzlerin Angela Merkel erklären.
Bleiben nur drei Anmerkungen.
1. Zur Zeit des obigen Beitrags galt gemäß EU als arm, wer weniger als 50% des Durschnittseinkommens hatte.
Inzwischen wurde die Definition enger gelegt, da bereits arm ist, wer weniger als 60% erhält.
Die 60% beziehen sich dabei auf 781 Euro netto im Monat, denn das ist die aktuelle Armutsgrenze.
Noch vor vier Jahren galt jedoch ein anderer Grenzwert. Er lag bei 938 Euro netto. Damit wurde die Schwelle um satte 17 Prozent nach unten geschoben.
Arm ist demnach Definitionssache, da sich Armut am – allgemein gesunkenen – Durschnittseinkommen orientiert.
Merksatz: Sind alle arm, ist keiner arm.
2. Im obigen Beitrag von 1996 hieß es auch “Die Münchner Sozialarbeiter fürchten noch Schlimmeres: Zehn Millionen Arme werde es bald geben.”
Es sind laut Arbeitsminister Scholz aber bereits 10.673.000 (13 Prozent von 82,1 Mio.). Dabei ist die Absenkung der Armutsschwelle um die oben erwähnten 17 Prozent nicht eingerechnet. Sonst wäre die Zahl noch etwas trauriger.
3. Das Superwahljahr 2009 plus demographische Form Deutschlands (= viele Rentner) verleitete die Bundesregierung jüngst zu einer erstaunlich großzügigen Sozial-Geste.
Sie erhöhte die Renten kurzerhand um erkleckliche 2,41 Prozent im Westen und noch spendablere 3,38 Prozent im Osten. Das mitgelieferte Argument, dies würde die Konjunktur ankurbeln, ist äußert fragwürdig, da viele Rentner über ein gutes Auskommen verfügen und damit diese zusätzliche Einkommen – im Gegensatz zur Situation von ALG-II-Empfängern – zum konjunkturneutralen Sparen verwendet werden dürften.
Merke: Die Regierung ringt weniger um den Sozialstaat, als um den Wahlsieg, um in einem künftigen Armutsbericht erneut verkünden zu können: “Der Sozialstaat wirkt”.
Ein Trostpflaster zum Schluß:
Während die aktuelle Anhebung des ALG-II-Satzes (Hartz IV) von monatlich 351 auf 359 Euro (in Worten: acht) fast wie eine Verhöhnung klingt, wurde immerhin eine separate Kinderleistung für 6 bis 13jährige in Höhe von monatlich 251 Euro eingeführt.
Trotz dieses Trostpflasters: Ein Sozialstaat, der wirkt, sieht nun wirklich anders aus.
— Schlesinger
* (Zitieranmerkungen: Statt 2200 oder 2300 Euro steht im SZ-Originaltext: 1600 oder 1700 DM; die Reihenfolge des zitierten Textes wurde teils verändert, nicht aber der Inhalt. )
(Photo: f650biker)
(Bild: courtesy (c) Randall Stoltzfus)