Erstmals wurden bislang unbekannte Tagebücher der Öffentlichkeit vorgestellt, die während der Zeit des Warschauer Ghettos (Mitte 1940 – Mai 1943) verfasst wurden.
Ein 37jähriger Rechtsanwalt schrieb während des Ghettoaufstandes (19. April bis 16. Mai 1943)
Eine Serie von Schüssen. Die Kugeln schlagen auf dem Kopfsteinpflaster in der Straße auf.
Die Aufständischen des Ghettos kämpfen den Kampf der Wenigen gegen die Vielen.
Auf dem Dach rattert ein Maschinengewehr. Der Kämpfer wird als Gegenwert für sein eigenes Leben einen hohen Preis verlangen.
Neben ihm sind kleine Fahnen, eine rot-weiße für Polen und eine zionistische blau-weiße.*
Morgen um diese Zeit wird alles vorbei sein. Ich sehe das kühl.
Jetzt ist es 2 Uhr nachmittag. Ich sehe in den klaren April-Himmel.
Heute nacht werden sie uns nach Treblinka schaffen.
Wenn der Morgen anbricht werde ich nicht mehr am Leben sein.
Die Überlegung ist einfach – zum letzten mal sehe ich den blauen Himmel zwischen den Wolken.**
In einem der Flure liegt die Leiche einer Frau, die gestern von einem Ukrainer erschossen wurde.
Er hat sie erschossen als sie sich dem Fenster genähert hat. Weil es verboten ist, sich dem Fenster zu nähern.
Neben der Leiche der Frau krabbelt ein vielleicht vier Jahre altes Kind.
Es fasst den leblosen Körper seiner Mutter an, zieht an ihren Haaren. Ihr regloser harter Körper belustigt das Kind. Es steckt einen Finger in den halboffenen Mund, berührt ihre glasigen Augen die nicht mehr sehen.
Und plötzlich beginnt es zu weinen, ein jammervolles Heulen.***
Am 16. Mai 1943, nach der Niederschlagung des Aufstandes, meldete SS-Brigadeführer Jürgen Stroop telegraphisch an General Krüger in Krakau:
Der ehemalige Jüdische Wohnbezirk Warschaus besteht nicht mehr. Mit der Sprengung der Warschauer Synagoge wurde die Großaktion um 20.15 Uhr beendet. […]
Gesamtzahl der erfassten und nachweislich vernichteten Juden beträgt insgesamt 56.065.
Meine Leute haben ihre Pflicht einwandfrei erfüllt.
Ihr Kameradschaftsgeist war beispiellos.
— Schlesinger
Photo: Wikipedia CC Lizenz
Leseempfehlung: Die Wohlgesinnten (Jonathan Littell), Der Tod ist mein Beruf (Robert Merle)
* A volley of shots. The bullets hit the paving stones in the street. The ghetto fighters are struggling in a battle of a few versus many. On the roof an automatic rifle is rattling. The fighter will exact a high price in return for his life. Beside him are small flags – a red and white Polish flag and a blue and white Zionist flag.
** Tomorrow at this time everything will already be over. I am calculating coldly. Now it is 2:00 o’clock in the afternoon. I am looking at the clear April sky. They will take us to Treblinka tonight. When the dawn breaks I will no longer be alive. The calculation is simple – for the last time I am seeing the blue sky between the clouds.
*** In one of the halls lies the corpse of a woman who was shot yesterday evening by a Ukrainian,” he wrote. “He shot her when she approached the window, because it is forbidden to get close to the windows. Near the woman’s body a small child of about four years old is crawling. He touches his mother’s lifeless body, he pulls her hair. Her motionless, hard body amuses him. He pushes a finger into her half-open mouth, touches her glazed eyes that do not see. And suddenly he begins to cry, a pitiful wail.