Achad Haam* war einer der populärsten Zionisten um die Wende zum 20. Jahrhundert. Er war zugleich der schärfste Kritiker der Hauptströmung des Zionismus.
Die Hauptströmung des “politischen Zionismus” wurde vor allem vertreten durch Theodor Herzl. Herzl hatte den sogenannten “politischen Zionismus” begründet: Durch praktische politische Arbeit sollte möglichst rasch die Grundlage für die Errichtung des Staates Israel geschaffen werden. Damit verbunden ist die Einwanderung von vielen Diaspora-Juden nach Zion.
Achad Haam dagegen legte dagegen größeren Wert auf eine geistige Vorarbeit. Diese Vorarbeit könnte sich auch über mehrere Generationen erstrecken: Man müsse geistige Aufbauarbeit leisten und sich dabei darüber klar werden wie ein künftiges Israel sein solle. Wie steht das neue Zion im Verhältnis zum Wesen des Judentums?
Die Idealvorstellung Haams:
Sein von Gott auserwähltes Volk würde in einem künftigen Land Israel endlich seiner uralten Bestimmung nachgehen können. Es würde in seinen Individuen und als Gesellschaft ein Leben von höherer Moral und Gesinnung führen. Damit würde es anderen Völkern als Vorbild dienen.
Das Wesen des Judentums
Leon Simon gab als Editor und Übersetzer im Jahr 1946 eine schöne Sammlung von Aufsätzen Achad Haams heraus. In der Einführung beschreibt Simon, wie Haam das Besondere am Judaismus verstanden hat:**
Das zentrale Merkmal des Judentums ist der unerschütterliche Glaube an universelle Gerechtigkeit und an die absolute Herrschaft des Rechts über die Macht.
Historisch gesehen ist das eine Folge des Umstands, dass die Hebräer ein schwaches Volk waren, das von stärkeren Nachbarn umgeben war, und sie unweigerlich untergegangen wären, hätten sie nicht einen Weg gefunden ihre Zusammengehörigkeit auf etwas nicht-physisches zu gründen, etwas, dem die materielle Macht ihrer Feinde nichts anhaben konnte. […]
Damit einher ging die Überzeugung, dass das jüdische Volk auserwählt wurde, um für den Triumph des absoluten Rechts über die Macht zu kämpfen.
Dieses Verständnis Achad Haams zum Judentum ist sicherlich nur eine Interpretation von vielen. Immerhin stammt diese Lesart von jemandem, der über mehrere Jahrzehnte als einer der angesehendsten jüdischen Essayisten seiner Zeit galt.
Hat sich die Vision Haams durchgesetzt? Eher nicht.
Recht statt Macht? Nein: Macht statt Recht!
Der “praktisch-politische” Zionismus, der seit den Zeiten von Staatsgründer David Ben-Gurion einen weiten Weg genommen hat über Jitzchak Rabin und Schimon Peres, und sich radikalisiert hat zuerst unter Menachem Begin und Jitzchak Schamir, später durch Ariel Scharon und heute mit Benjamin Netanjahu, stellt die Vision Haams auf den Kopf: Es gilt nicht die Maxime des Rechts, sondern der Macht.
Achad Haam sagte einmal sinngemäß, dass die Zionisten nicht mehr viel von dem alten Sendungsbewußtsein wissen wollen weil sie spüren wie groß die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist.
Die militärische Maxime Israels stammt seit einiger Zeit nicht einmal aus dem Alten Testament mit seinem “Auge um Auge, Zahn um Zahn“.
Sie lautet heute “Palästinensisches Leben und Familie um ein jüdisches Auge, palästinensisches Dorf und Land um einen jüdischen Zahn”.
— Schlesinger
* Mit bürgerlichem Namen Asher Ginzberg
** Übersetzung aus Leon Simon: Achad Haam, London 1946, S. 41
Titel-Photo: Achad Haam (Wikimedia gemeinfrei)
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