Tradition vs. Moderne
In Israel gewinnt die Frage nach der israelischen Identität zunehmend an Bedeutung. Jüdisch-traditionell oder säkular-modern?
Die Wahl ist vorüber. Netanjahu hat alt ausgesehen. Der in Israel populäre junge Schriftsteller Nir Baram begründet seine Einschätzung so:
Netanjahus immer gleiches Gerede vom Holocaust, von König David, von 1948, von den feindseligen Arabern… Das sei verblasst gegenüber dem frischen Auftritt des Wahlsiegers
Yair Lapid
Lapid, der Fernsehmann. Erfolgreich. Gutaussehend. Amerikanische Ausbildung. Lapids Themen sind einfach zeitgemäß: Löhne, Bildung, Wohnungsbau.
Auch im abgelaufenen Wahlkampf zeigte sich, welches Thema sich in Israel mehr und mehr in den Vordergrund drängt. Die bedeutende Frage, was Israel ist und was es werden soll.
Eine ruhige Diskussion ist das nicht. Anshel Pfeffer von der Haaretz meinte vor kurzem:
Moderne Israelis fühlen sich bedroht vom zunehmenden Einfluss der Orthodoxen und der Nationalisten. Für viele Orthodoxe wiederum sind die weltlichen Israelis ein Affront gegen das wahre Judentum. Ganz zu schweigen von der Hure Babylon namens Tel Aviv, Hochburg der Partygänger, des Jet-set und der Homosexuellen.
Eine Herausforderung seit Ben-Gurions Tagen
Für Staatsgründer David Ben-Gurion wäre die heutige Lage ein Alptraum.
Ursprünglich war Ben-Gurion utopischer Sozialist. Er wollte mit seinen Weggefährten nicht nur den Staat gründen, sondern auch den neuen jüdischen Menschen. Mit der Mentalität des Diaspora-Juden aus dem Ghetto wollte man nichts mehr zu schaffen haben. Man führte Debatten, wen man ins Land lassen wollte und wer nicht geeignet war.
Angesichts der entstandenen Auffassung, man könne mit den Arabern nicht kooperieren, sondern müsse sich ihnen gegenüber behaupten, wich in der Einwanderungsfrage der sozialistisch-elitäre Utopismus einer pragmatischen Haltung.
Überrollt wurde der Gedanke an eine Art “Auswahl” durch die Naziverbrechen. Man musste so viele aus Europa schaffen, wie es nur ging.
Ganz wollte man nicht ablassen von der sozialistischen Idee. Die Kibbutzim und die mächtige Gewerkschaft Histadrut hielten die Fahne des Sozialismus hoch, solange es ging.
Gläubig und nicht kosher
Ben-Gurion war praktizierender jüdischer Israeli. Soll heißen: Er glaubte an G’tt. Mehr noch glaubte er an die überlieferten ethischen Lehren seiner Religion. In Israel selbst besuchte er nie eine Synagoge.* Nur im Ausland.
Für religiöse Rituale und Gegenstände hatte er kein Verständnis. Nie hatte er eine Mezuzah an seiner Haustüre.** Die wurde erst nach seinem Tod angebracht, weil zu viele Besucher seiner Wohnung in Sede Boker über das Fehlen irritiert waren. Von kosherem Essen war er nicht überzeugt. Wenn er in der Öffentlichkeit aß, achtete er aus Verantwortungsgefühl strikt darauf nur kosher zu essen.
Den Orthodoxen warf er vor, sich zu sehr um das Verhältnis zwischen Mensch und G’tt zu kümmern. Sie sollten vielmehr das Verhältnis zwischen Mensch und Mensch in den Vordergrund stellen. Großen politischen Einfluss hatten die Orthodoxen in den Anfangsjahren Israel bis zum Krieg von 1967 nicht. Das erlaubte Ben-Gurion, den Wünschen dieses Klientels weit entgegen zu kommen.
Er wollte vor allem eines vermeiden. Einen ernsten Konflikt zwischen Traditionalisten und Modernisten. Das würde sich später regeln lassen, nahm er an.
Nun hat sich nichts von alleine geregelt.
Die Siedler der Westbank religiöser und nationalistischer Herkunft fühlen sich als “Herren des Landes“.
Tel Avivs Bürgermeister Ron Huldai hat im vergangenen Jahr die “schweigenden [säkularen] Massen” dazu aufgerufen, sich gegen die orthodoxen Nutznießer des Staates zu wenden.
Eine Umfrage vom vergangenen September ergab, dass 71% der Israelis die orthodox-säkularen Spannungen als das drängendste Problem der israelischen Gesellschaft betrachten.
Netanjahu, der nach Auffassung Nir Barams zu unbedeutend ist, um sich näher mit ihm zu befassen, muss in seinem unbedingten Willen zum Machterhalt den Rechten weit entgegen kommen.
Der Frage nach der Identität wird “Bibi” tunlichst ausweichen. Er ist nur ein Jongleur der Macht.
Politstar Yair Lapid hat nun im Höhenflug seines Erfolges prophezeit, er werde Netanjahu binnen 18 Monaten als Regierungschef ablösen. Er mag vielleicht moderner sein als Netanjahu. Aber nichts weist darauf hin, dass er das Format hat, diese schwere Aufgabe zu lösen.
Und doch muss sie gelöst werden, zum Wohl Israels, seiner Nachbarn und seiner auch arabischen Bewohner.
Wie meinte Nir Baram:
ich plädiere für eine offene israelische Gesellschaft, in der es keine Mauern gibt, in der man keine Angst hat vor den Palästinensern, vor den Arabern, vor den Syrern, und für mich ist das auch der wichtigste Kampf unserer Generation, für eine wirkliche Demokratie in Israel zu kämpfen, für eine wirklich offene Gesellschaft.
Keine einfaches Ziel.
Aber das war das Ziel, das Land Israel zu schaffen auch nicht.
— Schlesinger
Bild: Cafe Tel Aviv (c)
Leseempfehlung: “Die Herren des Landes” v. Idith Zertal und Akiva Eldar
* Eine Ausnahme: Am Unabhängigkeitstag 14. Mai 1948
** Symbolisiert ein Stück Pergament. Wird an der Eingangstüre angebracht. Beinhaltet Sätze aus dem Deuteromonium (5. Buch Mose).
Quelle zu den Haltungen Ben-Gurions: “Judaism in Israel: Ben-Gurion’s Private Beliefs and Public Policy”, Zvi Zameret / Moshe Tlamim. Israel Studies, Vol. 4, No. 2 (Herbst 1999), S. 64-89
The country’s 1 million ultra-Orthodox, also known as Haredim, account for about 19 per cent of the country’s Jewish population of 5.4 million. By 2050, 25 per cent of Israel’s population will be Haredim, the International Monetary Fund estimates.