Eigentlich gibt es nichts, was Israels Premierminister Benjamin Netanjahu schockieren kann. Dafür ist er zu lange im Geschäft. Wenn das Wort “eigentlich” nicht wäre.
Netanjahu hat noch nie den Sinnspruch des früheren Präsidenten Charles de Gaulle verinnerlicht, wonach Staaten keine Freunde haben, sondern nur Interessen.
Das unterscheidet ihn von Israels Staatsgründer David Ben Gurion. Ben Gurion kannte recht früh in seiner politischen Laufbahn nur noch Interessen. Daher konnte er keine 20 Jahre nach dem Horror des Holocaust mit Bundeskanzler Adenauer über Wiedergutmachung verhandeln, als fast alle anderen israelischen Politiker wutentbrannt waren bei dem Gedanken, mit Deutschland Kontakt zu haben. Für die Person Adenauer hat sich Ben Gurion kaum interessiert.
Bei Netanjahu kommt viel mehr Persönliches ins Spiel. Das war nicht zu übersehen im Verhältnis zu Barack Obama. Netanjahu hat das Mißverhältnis mit Obama geradezu genossen und öffentlich zelebriert.
Dann kam Donald Trump, und Netanjahu fühlte sich verstanden. Trump war ganz nach seinem Geschmack: Ein ganzer Kerl. Starke Sprüche. Die Unterscheidung der Welt in gut und böse. Autokratisches Gehabe.
Ben Gurion hätte sich danach gerichtet, was er von Obama bekommen, und was er von Trump bekommen hätte. In beiden Fällen hätte er registriert: mehr denn je. Auch und gerade von Obama. Damit wäre er zufrieden gewesen.
Aber Netanjahu wollte und will zuallererst etwas anderes: Persönliche Anerkennung und persönlichen Respekt vom Präsidenten der Vereinigten Staaten.
Nach der Vorstellung von Netanjahu muss ein US Präsident einem israelischen Ministerpräsidenten auf Augenhöhe begegnen, und immer unter besonderer Beachtung des Holocaust.
Dem hat sich Obama verweigert. Netanjahu hat darauf nicht kühl und kalkulierend reagiert, sondern wie eine beleidigte Primadonna.
Trump hat den Erwartungen Netanjahus entsprochen. Aber Netanjahu dürfte sich täuschen über die Motive Trumps.
In Wahrheit dürfte Trump egal sein wer oder was Netanjahu ist. Solange der kleinere Narzist namens Netanjahu dem größeren und mächtigeren Narzist namens Trump den Hof macht, spielt der größere Narzist gerne den Gönner.
Ein selbstgefälliger Netanjahu hat den Unterschied nicht bemerkt, hat die Pose nicht durchschaut, und sie für echte Freundschaft gehalten.
Trump vergisst “Freund” Netanjahu
Vor einigen Wochen hatte Israel zum zweiten mal in diesem Jahr gewählt.
Netanjahu hat im Wahlkampf riesige Plakate aufstellen lassen, die ihn Seite an Seite mit Trump gezeigt haben:
Seht, wie ich im Bunde bin mit dem mächtigsten Mann der Welt, und wie er zu mir steht.
Aber plötzlich führt Trump ein Telefonat mit dem türkischen Präsidenten Erdogan – ohne Rücksprache mit Netanjahu! – und gibt der Türkei nicht nur einen Freifahrschein ins Bürgerkriegsland Syrien, sondern auch freie Hand gegen die Kurden.
Weniger diplomatischer Verstand war selten. Trump hat damit die Kurden – seinen zuvor wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen den radikalen IS – kurzerhand kalt gestellt, und zum Freiwild erklärt für die türkischen Häscher.
Der syrische Dikator Assad, Rußlands Präsident Putin und Teheran können ihr Glück kaum fassen.
Assad kommt unverhofft dazu, bald wieder das ganze Land in seinen eisernen Griff zu bekommen. Syriens Unterstützer Iran wird damit ebenso gestärkt wie Wladimir Putin, der fest damit rechnen darf, dass Assad sich für die russische Unterstützung erkenntlich zeigt.
Die schiitische Hisbollah, die für Assad kämpft und vom Iran finanziert wird, wird nicht mehr aus Syrien abziehen. Damit steht sie nicht nur wie bisher im Libanon an der Grenze Israels, sondern auch von Syrien aus. Dasselbe gilt sinngemäß für die Einheiten der iranischen Revolutionsgarden, die bislang Assad unterstützt haben und ihre Positonen in Syrien behalten werden. So viel ist Assad seinen Helfern schuldig.
Das alles bedroht Israel massiv, wird durch die kopflose Aktion Trumps verschärft und muß Netanjahu in Furcht und Schrecken versetzen.
Vielleicht dämmert Netanjahu, dass er sich getäuscht hat in seinem Freund Trump. Denn Trump kennt kein rationales Kalkül wie sein Vorgänger Obama, sondern nur Emotion und Stimmung und Reflex. Daher auch dieser einseitige irrwitzige Schritt gegenüber der Türkei, ohne Rücksicht auf Israel.
Offenbar hat Netanjahu keinen Plan B für diesen Fall. Denn selten war so viel Schweigen auf Seiten Netanjahus. Er dürfte wirklich schockiert sein.
Netanjahu sollte sich fürchten vor Donald Trump.
— Schlesinger
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