Der 20jährige Palästinenser Omar al-Abed hat in der von Israel besetzten Westbank drei Siedler erstochen.
Die Tat hat er vorsätzlich begonnen.
Das ist Mord. Wenn es in Friedenszeiten geschieht.
In Zeiten von Krieg oder kriegerischer Besatzung bekommen diese Taten andere Namen. Das war zu allen Zeiten und überall so. Dann wird ein Mord vom Unterdrücker “Terror” und vom Unterdrückten “Freiheitskampf” genannt.
Das war auch in der Zeit vor der Gründung Israels nicht anders:
Als der Zweite Weltkrieg vorbei war wurde Palästina immer noch von Großbritannien regiert. England war zwar kein feindseliger Besatzer, sondern die vom Völkerbund dazu bestimmte Mandatsmacht. Aus Sicht der Zionisten, die ihren Staat Israel lieber früher als später gründen wollten, war England trotzdem nur der Besatzer. Morde an englischen Soldaten und Zivilisten waren daher keine Morde, sondern Akte des Freiheitskampfes. So zum Beispiel bei dem verheerenden Bombenanschlag auf das König David Hotel in Jerusalem, das den Engländern als Verwaltungszentrale diente. 91 Menschen starben, darunter viele Zivilisten. Menachem Begin, einer der Führer der verantwortlichen Untergrundorganisation Lechi wurde später sogar Ministerpräsident Israels.
Seit einem halben Jahrhundert hält Israel die palästinensische Westbank militärisch besetzt. Israel hat dazu kein Mandat. Die Bibel ist das Mandat Israels. Dieses Mandat erlaubt Israel alles.
Gideon Levy, Journalist der liberalen Tageszeitung Haaretz, wird nicht müde die Besatzung anzuklagen und ihre schlimmen Folgen für Palästinenser und Israelis zu beschreiben.
Levy verharmlost die Tat Omar Al-Abeds nicht, aber er verlangt von seinen Landsleuten sich endlich klar zu werden über die Ursachen: die Besatzung und der Widerstand dagegen, die zu massivem, sinnlosem Blutvergießen führen
This is what occupation and resistance to it look like: massive, pointless bloodshed.
Für seine Kritik der Besatzung wurde Levy schon früher angefeindet, und auf der Straße angespuckt.
Wird es bei verbalen Ausfällen und kleineren körperlichen Angriffen bleiben? Oder ist vielmehr zu befürchten, dass es in der aufgeheizten Atmosphäre zu politisch motivierten Morden unter Israelis kommt?
Das wäre nichts Neues. Der Lehrer Emil Grunzweig wurde im Februar 1983 während einer Friedensdemonstration ermordet: ein Radikaler hatte eine Handgranate in die Menge geworfen (der Mörder kam 2011 frei).
Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin wurde im November 1995 erschossen, nachdem er die Siedlerbewegung wiederholt kritisiert hatte.
Obwohl das Land durch diesen Mord tief erschüttert wurde, war es nicht die letzte Gewalttat, die Israelis an Israelis begangen haben. Im September 2008 wurde auf Professor Zeev Sternhell ein Bombenanschlag verübt, weil er die Besatzung kritisierte.
Im Oktober 2015 wurde Rabbi Arik Aschermann, der Leiter von “Rabbis für Menschenrechte“, in der Nähe der Siedlung Itamar von einem maskierten Siedler mit einem Messer angegriffen.
Dazu kommen unzählige nicht dokumentierte Fälle, in denen Rechte und Siedler gegen Friedensaktivisten und Menschenrechtler mit körperlicher Gewalt vorgehen.
Seit Jahren erlebt Israel einen massiven politischen Rechtsruck.
Aus guten Gründen darf man annehmen, dass die nationale Agenda längst durch das Quasi-Bündnis von Radikal-Religiösen zusammen mit militanten Siedlern bestimmt wird. Die Linke gibt es nicht mehr.
Was übrig geblieben ist von der früher so starken links-liberalen Bewegung sind vereinzelte Bürgerrechtsbewegungen wie zum Beispiel das Kommittee gegen Hauszerstörungen, Yesh Din, Btselem, die zuletzt in unseren Medien öfter genannte Organisation ehemaliger Soldaten, die ihr Schweigen brechen (Breaking the Silence), oder das Internetportal 972mag.
Eines ist diesen Organisationen und Journalisten gemeinsam: Sie stehen unter einem enormen politischen und gesellschaftlichen Druck. Sie müssen sich als Handlanger eines feindlich gesinnten Auslands verunglimpfen, von der rechten Organisation Im Tirtzu als Verräter bezeichnen lassen, und erhalten Todesdrohungen.
Der “normale” Israeli interessiert sich längst nicht mehr für irgendwelche Grundrechte von Palästinensern.* Es stimmt zwar, dass Israel eine Demokratie ist. Israel wird nicht müde, das zu betonen. Nur: Es ist eine Demokratie für sich, keine Demokratie an sich.
Kürzlich geriet der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel in die Kritik, weil er bei seinem Besuch in Israel auch Vertreter der Organisation “Breaking the Silence” treffen wollte. Die Ex-Soldaten berichten, was wirklich geschieht in den besetzten Gebieten. Die Deutsche Welle hat dazu einen Fernsehbeitrag erstellt. Gegen Ende des Beitrags sieht man Yehuda Schaul, einen Mitbegründer der Gruppierung, wie er in der besetzten Stadt Hebron von einem Siedler aggressiv “befragt” wird. Beim Weggehen meint der Siedler “Wir sehen uns wieder – auf Deiner Beerdigung”.
Wer wie Gideon Levy offen und anklagend ausspricht, wie rechtswidrig und amoralisch das Verhalten Israels gegenüber den Palästinensern ist, gehört längst zur Paria.
Gideon Levy wurde noch nicht ermordet. Aber er lebt gefährlich.
— Schlesinger
* PS. 1: Wie man als Israeli gewalttätige Taten von Palästinensern inzwischen ganz isoliert und naiv als Taten von irgendwie bösen Menschen wahrnehmen kann, völlig losgelöst von jeglicher Ursache, führt uns die Schriftstellerin Mirna Funk eindrucksvoll vor. Auf dem FREITAG warnt sie Deutschland, es könne gleiches erleben wie Israel:
Der beste Geheimdienst und die ausgeklügeltste Überwachung werden keinen 19-Jährigen aufhalten können, der eines Morgens mit schlechter Laune aufwacht, sich ein Messer aus dem Besteckkasten greift und in der Mall of Berlin wild um sich sticht. Aber wir können von den Israelis und ihrer Erfahrung mit Terrorismus lernen.
Verstehe. Übersetzt auf das Geschehen in Israel, auf das sie Bezug nimmt: Palästinenser wachen mit schlechter Laune auf, um Juden zu erstechen. Das könnte O-Ton aus Israel sein: “Wir” wissen gar nicht, woher das kommt. “Die” sind einfach nur schlecht. Deshalb müssen wir sie besetzen. Um das Schlimmste zu verhindern.
PS. 2: Als Gideon Levy unlängst in München gesprochen hat, waren sich der Zweite Bürgermeister Josef Schmid (CSU) oder die Abenzeitung nicht zu schade, ihn in die antisemitische Ecke zu stellen. So wird von völlig Ahnungslosen Nahost-Lokalpolitk betrieben.