Der Regierung fehlt eine systematische Langzeitperspektive was die Wohnungsbau-Politik anbelangt.
Dieser Trend könnte sich in sozialen Unruhen niederschlagen, die soziale Ungleichheit verschärfen und sogar Auswanderung bewirken.
So warnte der parlamentarische Recherche- und Informationsdienst der Knesset im März 2008, als der Premierminister noch Ehud Olmert hieß.
Olmert? Richtig: Die Regierungszeit Olmerts endete in einem Sumpf von Korruption, die sich auch im Bausektor abspielte. Besonders das gigantische “Holyland”-Projekt im arabischen Teil Jerusalems, für das Olmert in seiner vorherigen Zeit als Oberbürgermeister Jerusalems 1 Million Dollar an Bestechungsgeldern kassiert haben soll, löste einen enormen Wirbel aus.
So schädlich Korruption für eine Gesellschaft sein mag, so wenig sind solche Fälle verantwortlich für die seit Jahren schwelende Lage in Israel. Auf Dauer zersetzend wirken vielmehr die unaufhaltsam steigenden Preise für Miete, Hausbau, Benzin oder Kindergartenplätze , die seit langem von der Einkommensentwicklung abgekoppelt sind.
Motiviert vom arabischen Frühling
Schon im Februar diesen Jahres gab es erste Proteste in Tel Aviv, die sich vor allem gegen die unzumutbaren Benzinpreise richteten. Mehrere Parlamentarier hatten an der Demonstration teilgenommen und das “Ende der Mittelschicht” ausgerufen. Mit der Aktion bezog man sich ausdrücklich auf die revolutionären Vorgänge in Ägypten und drohte der eigenen Regierung an:
Wir wehren uns – wie die Ägypter!
Diese Woche nun fanden in Israel Massenproteste statt, wie sie das Land seit Jahrzehnten nicht gesehen hat.
Offenbar gingen weit über hunderttausend Menschen auf die Straße.
Auf Protestplakaten war zu lesen: “Bibi, Du bist gefeuert!” (Bibi ist der Kosename für Benjamin Netanjahu, den Ministerpräsidenten).
Auf den ersten Blick ist nicht erkennbar, worin eine Verbindung bestehen soll zwischen den revolutionären Protesten in Ägypten oder Tunesien und den aktuellen Protesten in Israel.
Dennoch besteht eine strukturelle Ähnlichkeit.
In den Ländern des arabischen Frühlings nährt sich der Unmut der Bevölkerung nicht nur aus einer bedrückenden wirtschaftlichen Situation oder aus unzulänglichen demokratischen Mechanismen.
Der Ärger kommt auch von der jahrzehntelangen Zumutung, die darin besteht, die von höchster Stelle verbreiteten Ausreden, Lügen und Ablenkungen gegenüber den eigenen Unzulänglichkeiten hinnehmen zu müssen.
In Ägypten lautete eine der von Staats wegen gepflegten Ausreden, die Regierung müsse die Zügel straff halten um extremistischen Strömungen wirksam entgegen treten zu können. Eine andere lautete: Man müsse mit Israel eng kooperieren, um die radikale Hamas in Schach halten und den Frieden wahren zu können.
Die Bevölkerung in Ägyspten wurde dazu selbstverständlich nie befragt. Das konnte sich Präsident Mubarak auch kaum erlauben, da er sehr wohl wußte, dass “die Straße” der Muslimbruderschaft entweder mit Sympathie oder neutral gegenüber stand.
Der Abriegelung des Gazastreifens standen die Ägypter seit jeher ablehnend gegenüber.
Das Ergebnis der praktischen Politik im Schatten dieser Staatslügen ist hinlänglich bekannt:
- Beschneidung der bürgerlichen Freiheiten
- Vetternwirtschaft des Mubarak-Clans und
- Zementierung der Kluft zwischen reich und arm
In Israel lautet ein seit Jahrzehnten mißbrauchter Slogan “Sicherheit zuerst!”
Dieser Leitsatz, der letztlich zurück geht in die Gründerjahre Israels und den damaligen Premierminister David Ben Gurion fordert das Primat der Sicherheits- und Militärpolitik gegenüber allen anderen Bereichen staatlichen und gesellschaftlichen Lebens.
Im Schatten dieser Doktrin konnte die in Israel seit den Anfängen des Zionismus gesellschaftlich dominierende Elite der Ashkenazim, also der europäisch-stämmigen Einwanderer nach Israel, mühelos die Oberhand bewahren.
Weiße Ashkenasim gegen schwarze Mizrahim
Im Gegensatz zu den Ashkenasim stellen die aus dem Orient eingewanderten Mizrahim (auch Sephardim genannt) seit jeher den unterprivilegierten Teil des Landes und rangieren in der sozio-ökonomischen Hierarchie nur knapp vor den arabischen Israelis.
In den achtziger Jahren stellten die Mizrahim zwar die Mehrheit der Bevölkerung. Trotzdem sind sie in allen gesellschaftlichen Belangen weit hinter den Ashkenazim zurück geblieben.
Der seit 1948 – dem Gründungungsjahr Israels – latente Konflikt zwischen diesen beiden Bevölkerungsgruppen konnte vor allem durch zwei Aspekte unter Kontrolle gehalten werden:
Die häufigen Kriege haben einen mentalen Belagerungszustand erzeugt. Vor diesem Hintergrund gilt das arabische Sprichwort: Ich gegen meinen Bruder, mein Bruder und ich gegen unsere Cousins, unsere Familie gegen die andere Familie. Das bedeutet: Im Zweifel steht man zusammen. Trotz aller Ungleichheit standen Ashkenasim und Mizrahim angesichts der tatsächlichen oder vermuteten äußeren Feinde zusammen.
Dasselbe gilt für den Antisemitismus, wie er in Israel wahrgenommen wird. Solange die Haltung “wir gegen den Rest der Welt” wirksam ist, hilft sie interne Probleme in Schach zu halten.
In den jüngsten massenhaften Protesten zeigt sich, dass diese Doktrinen an ihre Grenzen gestoßen sind.
Ja, man sieht noch immer eine äußere Bedrohung.
Ja, man sieht noch immer einen Antisemitismus.
Aber NEIN, man ist nicht mehr länger bereit deswegen jahrein, jahraus oder gar jahrzehntelang zurück zu stecken und einen permanenten ökonomischen Notstand hinzunehmen.
Schlimmer: In Zeiten von Internet und Facebook dürfte sich in Israel herum gesprochen haben, dass eine obszön reiche Oberschicht offenbar überhaupt nicht berührt wird von diesen äußeren Bedrohungen, aufgrund derer man immer Solidarität und Opfer vom kleinen Mann gefordert hat.
Dass eine Oberschicht – nur aus Ashkenazim bestehend – möglicherweise profitiert von diesen äußeren Bedrohungen.
Dass eine radikale religiöse Siedlerbewegung profitiert, weil ihre politisch gewollten Siedlungen weit überproportional subventioniert werden. Diese Vergünstigungen gehen selbstverständlich zu Lasten der unterentwickelten, überwiegend von Mizrahim entwickelten Städte an den Rändern Kernland Israels, den sogenannten Entwicklungsstädten.**
Auch das ist nichts Neues.
1981 schrieb die links-jüdisch-arabische Partei Hadash in einem Wahlkampf-Flyer:*
150 Milliarden Shekel für Siedlungen!
Dieser Betrag ist viermal mehr, als nötig wäre für die wirtschaftliche Regeneration aller verarmten Viertel in Israel!
Im selben Jahr protestierte die Ohalim-Bewegung (“Zelt-Bewegung”, eine Aktivistenbewegung für sozial Benachteiligte, Anm.), die Regierung würde Millionen verbrennen, während dessen würden israelische Bürger
in der Not der Slums vor sich hin vegetieren
Im Jahr 2002 traten fünf Minister der Regierung der Nationalen Einheit zurück, die vom notorischen Siedler-Förderer Ariel Scharon geführt wurde. Sie wollten damit gegen die einseitige Begünstigung der Siedlungen protestieren, während man an anderer Stelle soziale Programme kürzte.
Man sieht: Das alles ist nicht neu.
Neu ist: Man ist offenbar nicht mehr gewillt das alles hinzunehmen unter dem vorsätzlich irreführenden Slogan “Wir gegen den Rest der Welt”.
Viele Bürger Israels erkennen, dass sie benutzt wurden. Schändlich benutzt von den Profiteuren im eigenen Land. Oder mißachtet von den orthodoxen Ideologen im eigenen Land.
Immer mehr Bürger Israels erkennen, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müssen.
Darin besteht die Parallele zwischen dem Tahrir-Platz in Kairo und den Straßen Tel Avis.
Der arabische Frühling könnte zu einem israelischen Frühling werden.
Was für eine Vorstellung: Israel findet eine ruhige Zukunft mit Hilfe von Arabien.
— Schlesinger
Photo: Boell-Stiftung (Flickr CC Lizenz)
* Übersetzt aus “Not the enemy” (Rachel Shabi, Yale University Press 2009, S. 72)
** zu denen übrigens Sderot gehört, die Stadt, die durch den häufigen Kassam-Raketenbeschuss aus Gaza zu Berühmtheit gelangte. Die Stadt wird ganz überwiegend von Orient-stämmigen Mizrahim bewohnt.
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- Has the Arab Spring arrived in Israel? – Aljazeera.net (news.google.com)
- Israeli protesters join general strike (jta.org)
- Palestinians set date for mass demonstrations (seattletimes.nwsource.com)