Die eigentliche Tendenz der Dinge ist eine zentrifugale, sie streben auseinander, mit größer Geschwindigkeit voneinander weg
schrieb Elias Canetti in seinem Erinnerungsband “Die Fackel im Ohr”, meinte dabei seine Erlebnisse in Berlin zum Ende der zwanziger Jahre, aber ebensogut hätte er das heutige Israel beschreiben können.
Die Entwicklungen in Israel sind seit längerem beherrscht von zentrifugalen Kräften.
Es fehlt, um mit dem amerikanischen Soziologen Neil Postman zu sprechen, “die große Erzählung“.
Im Abendland bestand die große Erzählung aus der christlichen Glaubenslehre, in Amerika war es die Geschichte der unbegrenzten Möglichkeiten, im jungen Israel war es der Sozialismus der Pioniere und Kibbutzim und die sagenumwobene Wehrhaftigkeit der Armee.
Die Gründergeneration um Ben-Gurion wußte genau, wie groß die Gefahr der zentrifugalen Kräfte war und sie tat alles, um die eigene große Erzählung lebendig zu halten.
Das hatte funktioniert für die von Anfang an privilegierten europäisch-stämmigen Ashkenasim. Für große Teile der Gesellschaft, etwa die arabisch-stämmigen jüdischen Mizrahim und die palästinensischen Israeli, hat es im Grunde nie funktioniert.
In den Achtzigern wurde die sozialistische Idee von der jüdischen Einheitsgesellschaft still begraben. An ihre Stelle trat ein kalter Kapitalismus nach Art der Maggie Thatcher und des Ronald Reagan.
Damit war die letzte Chance auf eine gemeinsame Erzählung vertan. Seitdem wirken die zentrifugalen Kräfte in offenem Wettstreit.
Die Ziele der einzelnen Gruppierungen der Ultra-Orthodoxen, der nationalen Rechten, der militanten Siedler, der Menschenrechtler und Friedensaktivisten könnten unterschiedlicher nicht sein.
In einer schwer definierbaren Mitte steht eine duldsame Mehrheit, die, wie Elias Canetti in “Masse und Macht” lapidar formulierte, “essen, trinken, lieben und Ruhe haben” wollen, aber im übrigen eine von Staats wegen beförderte offen aggressive Haltung gegen alles arabische hat.
Allen steht eine kleine Schicht an Superreichen mit wohlwollend gleichgültiger Distanz gegenüber: Und wenn morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch eine feindliche Übernahme realisieren (um Hoimar von Ditfurths optimistisch gepflanztes Apfelbäumchen zu persiflieren).
Unbetroffen von den Divergenzen scheint die Armee, die nach wie vor die Kaderschmiede der Politik mit besten Verbindungen zur Wirtschaft ist. Sie lebt für und aus sich und ist so lange sakrosankt, wie eine äußere Gefahr existiert oder als existierend angenommen wird.
An der Spitze des Landes stehen konsequenterweise die visionslosen Koalitionen der Ehud Barak, Ehud Olmert und Benjamin Netanjahu, die im Zeitablauf gekennzeichnet sind durch eine zunehmende Rechtsdrift.
Die aktuelle Koalition unter Netanjahu hat die sozialen Proteste des letzten Jahres irgendwie überstanden, freilich ohne schlüssige Antworten angeboten zu haben. Der Protest ist einfach nur erschlafft. Netanjahu und Konsorten haben Glück gehabt.
Die einzig wirksame Erzählung dieser Tage ist eine negative: die von der iranischen Bedrohung.
— Schlesinger
Photo: Nina J.G. (Flickr CC Lizenz)
Related articles
- Elias Canetti on how to start a war (philebersole.wordpress.com)
- Netanjahu Uses Tough Tone on Possible Iran Strike (nytimes.com)