Begeht die israelische Armee gerade einen Völkermord in Gaza?
Hat Hamas mit seinem Überfall israelischer Dörfer nahe Gaza am 07. Oktober einen Genozid begangen?
Genozid ist eine schlimme Anklage, und man muss vorsichtig damit umgehen, wenn man die Begriffe nicht entwerten und sie damit sinnlos machen will.
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat nach den Gräueltaten der Deutschen im Zweiten Weltkrieg — allen voran der Holocaust an den Juden — die Konvention zur Vorbeugung und zur Bestrafung von Völkermord erlassen (09.12.1948).
Definition Völkermord (Genozid)
In Artikel II dieser UN-Resolution 260 wird Völkermord definiert:
Im Sinne dieses Übereinkommens bezeichnet der Begriff „Völkermord“ jede (!) der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten:
(a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
(b) Verursachung schwerer körperlicher oder geistiger Schäden bei Mitgliedern der Gruppe;
(c) vorsätzliche Zufügung von Lebensbedingungen für die Gruppe
die darauf abzielen, die Gruppe ganz oder teilweise physisch zu vernichten;
(d) Verhängung von Maßnahmen, die darauf abzielen, Geburten innerhalb der Gruppe zu verhindern;
(e) die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.
Es genügt, wenn eine dieser Voraussetzungen zutrifft, verbunden mit der dahinter stehenden Absicht, die Gruppe als Ganzes zu schädigen.
Hamas und Israel sind des Völkermords schuldig, aber
Die barbarischen Gewaltakte der Hamas haben sich unterschiedslos und gezielt sowohl gegen israelisches Militär als auch Zivilisten gerichtet. Anhand der von Hamas selbst verbreiteten Videos und Botschaften ist zweifellos zu erkennen, dass die Tötung von Zivilisten vorsätzlich begangen wurde. Es handelt sich also um vorsätzlichen Mord an vielen Menschen einer bestimmten Zugehörigkeit (israelische Bürger). Der Mord hat sich unterschiedlos gegen diese Menschen gerichtet. Das Mordkriterium aus der Sicht der Hamas war: Es sind Israelis bzw Juden. Wären mehr Menschen auf dem Festival oder in den Kibbutzim gewesen, wären mehr Menschen umgebracht worden.
Es handelt sich bei der Gewalttat der Hamas klar um einen beabsichtigten Völkermord.
Trotz dieses Horrors muss festgehalten werden: Die Dimension dieser wahnsinnigen Mordtaten sind nicht geeignet, den Bestand oder die Bevölkkerung Israels auch nur ansatzweise zu gefährden.
Israel hat nach dem Überfall der Hamas den Kriegszustand ausgerufen und seitdem unzählige Ziele im Gazastreifen angegriffen.
Wie in den vergangenen Kriegen gegen die Palästinenser — egal ob in Gaza oder im Westjordanland — versucht Israel seinen militärischen Einsatz stets als Notwehr darzustellen (“Recht auf Selbstverteidigung”). Jeder militärische Einsatz ist allerdings an das Kriegsvölkerrecht gebunden.
Im Kriegsvölkerrecht ist unter anderem bestimmt:
Die Konfliktparteien und die Angehörigen ihrer Streitkräfte haben keine unbegrenzte Wahl der Methoden und Mittel der Kriegsführung. Es ist verboten, Waffen oder Methoden der Kriegsführung einzusetzen, die unnötige Verluste oder übermäßige Leiden verursachen.
Konfliktparteien müssen jederzeit zwischen der Zivilbevölkerung und Kombattanten unterscheiden, um die Zivilbevölkerung und ihr Eigentum zu schonen. Vor der Durchführung eines Angriffs sind diesbezüglich angemessene Vorkehrungen zu treffen.
Massenbombardements sind nie verhältnismäßig
Israel hat sich seit Beginn des Kriegs geradezu damit gebrüstet, wie viele Ziele im Gazastreifen entweder beschossen oder bombardiert wurden.
Kommentatoren in TV-Sendern und Politiker haben sich gegenseitig übertrumpft mit Gewaltphantasien:
Klare Ansage eines Sprechers auf dem populären TV Sender Channel 14 #Israel Wir kommen und werden Euch alle töten! … Die Heulsusen in den sozialen Medien sollen ruhig rufen „Free Palestine“ … Wir kämpfen auch gegen die ganze Welt! DAS deckt sich mit der Realität in #Gaza , nichts sonst:
— Cafe Tel Aviv (@cafetelaviv.bsky.social) May 27, 2024 at 12:02
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Viele Tausend Bomben, die oft über dicht besiedeltem Gebiet abgeworfen werden, machen eine Unterscheidung zwischen militärischen Zielen und zivilen Umgebungen so gut wie unmöglich, dafür ist die Sprengkraft in aller Regel zu groß.
Auf Verhältnismässigkeit wird keinerlei Rücksicht genommen. Ein israelischer Soldat meinte:
We just took down the whole area where we thought the shooter was.
BBC
Das darf angesichts der unzähligen Bilder flächendeckender Zerstörung als allgemein gültig genommen werden.
Richtig ist, dass Israel die Bevölkerung auch aufgerufen hat, sich aus Gaza-Stadt in den Süden zu begeben, weil es dort sicherer sei. Richtig ist auch, dass Tausende Flugblätter dazu abgeworfen wurden. Dazu wurden Botschaften über Fernsehen und soziale Medien verbreitet.
Doch inzwischen kam ein schlimmer Verdacht auf. Könnten diese ganzen Warnungen nur dem Schein gedient haben? Oder schlimmer: Waren diese “Warnungen” eine Falle?
Israelische Aufforderungen an die Bevölkerung in Gaza eine Falle?
Die englische BBC hat eine Untersuchung dazu veröffentlicht. Sie hat einerseits die israelischen Meldungen an die Bevölkerung von Gaza gesichtet, und dazu gesichtet, welche zivilen Ziele von Israel schwer getroffen wurden.
Dabei zeigt sich, dass in wenigstens vier Fällen die Menschen aufgefordert wurden, sich in ein bestimmtes Gebiet zu begeben. Just diese Gebiete wurden dann von der israelischen Luftwaffe angegriffen.
Am 8. Oktober wurden die Palästinenser von der israelischen Armes auf Twitter per Text und gekennzeichneter Karte aufgefordert, nach Khan Younis zu gehen. Das geht selbstverständlich nicht binnen Stunden. Die Leute, die der Aufforderung folgen wollen, müssen ihre nötigsten Dinge packen und alle möglichen Dinge organisieren. Sie sind dann vielleicht am nächsten oder übernächsten Tag dort. Aber just zwei Tage nach der israelischen Aufforderung erfolgte eine Bombardierung des Zentrums von Khan Younis.
Dasselbe galt für die Umgebung von Rafah ganz im Süden des Gazastreifens: Am 08. Oktober wurde die Bevölkerung der dortigen Umgebung aufgefordert, sich sicherheitshalber ins Zentrum von Rafah zu begeben. Das Zentrum wurde am 11. Oktober bombardiert.
Am 16. Oktober riet die israelische Armee nochmals, sich nach Khan Younis zu begeben. Diesmal mit besonders mitfühlendem Ton:
if your safety and the safety of your loved ones are important to you
Am 19. Oktober wurde das Zentrum von Khan Younis erneut bombardiert.
Schließlich wurden Bewohner aufgefordert, sich in die zentral gelegenen Flüchtlingscamps zu begeben. Die Camps al-Nuseirat, al-Bureij und Deir al-Balah wurden am 17., 18. bzw. 25. Oktober bombardiert.
Vernichtet die Amalekiter
Die Opferzahlen im Gazastreifen gehen inzwischen auf 40.000 zu.
Nach dem Krieg wird man das Vorgehen Israels genauer untersuchen. Es könnte gut sein, dass man die Fernsehansprache von Ministerpräsident Netanjahu in Bezug setzt zu den Aktionen seiner Armee.*
Im Grunde hat Netanjahu einen heiligen Krieg ausgerufen. Er hat seinen Soldaten vermittelt, dass die Palästinenser die biblischen Amalekiter sind. Die Amalekiter als die Erzfeinde Israels müssen allesamt ausgelöscht werden.
Der israelische Historiker Prof. Dr. Ilan Pappé, der aufgrund seiner kritischen Äußerungen über den fürchterlichen Libanon-Feldzug Israels gegen den Libanon (2006) von seinem Lehrstuhl an der Universität Haifa verdrängt wurde und seitdem an der Universität von Exeter in England lehrt, hat soeben geurteilt: Israel begeht einen Völkermord in Gaza:
Ich denke, was wir jetzt sehen, was sich vor unseren Augen abspielt, ist eine Völkermord-Situation, bei der Menschen ins Visier genommen werden, seien es Kinder, Babys, im Krankenhaus oder in Schulen. Es handelt sich um eine massive Operation des Tötens, der ethnischen Säuberung und der Entvölkerung. Der Vorwand für diese Art von Grausamkeit ist die Rache für das, was die Hamas am 7. Oktober getan hat, aber ich denke, die eigentliche Absicht ist nicht nur Rache, sondern der Versuch, das, was am 7. Oktober geschehen ist, auszunutzen, um neue Realitäten im historischen Palästina zu schaffen. Sie haben es eine neue Nakba genannt. Ich denke, dass die Nakba für die Palästinenser nie wirklich zu Ende gegangen ist, so dass es sich um ein neues schreckliches Kapitel der Nakba handelt, die die Palästinenser hier erleiden.
Letztes Ziel Rafah, oder doch nur maximale Zerstörung?
Trotz mehrfacher amerikanischer Aufforderungen, die im Süden des Gazastreifens befindliche Stadt Rafah nicht anzugreifen, hat der israelische Angriff längst begonnen. Rafah war zu Beginn des Angriffs heillos überfüllt von Hunderttausenden von Flüchtlingen aus den nördlichen Gebieten. Dort steht praktisch kein Stein mehr auf dem anderen. Infrastruktur wie Strom, Wasser oder Heizung ist im Grunde völlig vernichtet. Nun sind unzählige Menschen aus Rafah weiter geflüchtet. Meist an die Küste, wo sie in Zelten vagabundieren, und wo es nichts gibt.
Israel sagt, es müsse in Rafah die letzten Einheiten der Hamas bekämpfen.
Doch Premierminister Netanjahu und seinen Generälen ist vollkommen klar, dass sie die Hamas mit militärischen Mitteln gar nicht beseitigen können. Die Hamas ist mit der Ersten Intifada groß geworden und hat schon immer “gelebt” von der Besatzung durch Israel. Selbst wenn die militärischen Einheiten der Hamas mehr oder weniger aufgerieben sind, wird es irgendwelche Gruppierungen geben, die die Flagge des Widerstands gegen die jahrzehntelange Besatzung hoch halten.
Also stellt sich die Frage, welches Ziel Netanjahu und seine rechte Regierung eigentlich verfolgt.
Die Antwort scheint klar, und ergibt sich letztlich aus der schon immer gleichen Grundeinstellung des Benjamin Netanjahu: Die Palästinenser müssen weg.
Der Angriff der Hamas am 7. Oktober war eine fürchterliche Mordtat, und Israel hätte jedes Recht auf Vergeltung gegen die Hamas gehabt.
Doch Netanjahu & Co. haben von vornherein einen andern Weg verfolgt: Die Bekämpfung von “Amalek”, den Palästinensern an sich. Mit Stumpf und Stiel. Bald 40.000 Tote und unzählige Verstümmelte und Verletzte. Auch ohne diese letzte militärische Aktion gegen Rafah muss man feststellen, dass ein menschenwürdiges Leben für die Palästinenser im Stalingrad namens Gaza bis auf lange Zeit nicht möglich sein wird.
Das ist ein umgesetzter Genozid an den Palästinensern.
Die spanische Aussenministerin Margarita Robles hat das Vorgehen von #Israel in #Gaza als #Genozid bezeichnet. Zurecht.
— Cafe Tel Aviv (@cafetelaviv.bsky.social) May 27, 2024 at 12:21
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— Schlesinger jr.
Photos: Screenshots BBC / öffentliche Twitter Aufnahme IDF
PRIME MINISTER BENJAMIN NETANYAHU (TV-speech)
“You must remember what Amalek has done to you, says our Holy Bible. And we do remember, and we are fighting. Our brave troops and combatants, who are now in Gaza or around Gaza and in all other regions in Israel, are joining this chain of Jewish heroes, a chain that has started 3,000 years ago, from Joshua ben Nun until the heroes of 1948, the Six-Day War, the ’73 October War and all other wars in this country. Our hero troops, they have one supreme main goal: to completely defeat the murderous enemy and to guarantee our existence in this country. We have always said, “Never again.” Never again is now.”
Aufmerksame Zuhörer (Soldaten!) werden bemerkt haben, dass Netanjahu von dem “mörderischen Gegner” sprach. Er hätte viel treffender von der “mörderischen Hamas” sprechen können. Im Kontext der Anrufung von “Amalek” dürfte als Feind aber die Palästinenser insgesamt gemeint sein. Das entspricht absolut der Weltanschauung von Benjamin Netanjahu.