Reisetagebuch Mai 2010
Abends im Hotel, vor dem Laptop. Über Facebook erfahre ich:
Uri wurde von den Sicherheitskräften die Hand gebrochen, Ro’i eine Rippe, Dani ein Finger.
Elisheva erlitt eine Rückenprellung. 14 Leute wurden festgenommen.
Das hat sich auf die Demonstration im arabischen Stadtteil Sheikh Jarrah vor zwei Wochen bezogen.
Dort finden jede Woche Proteste gegen jüdisch-orthodoxe Siedler statt, die arabisches Land enteignen lassen und darauf bauen.
Die Initiatoren der Demonstrationen sind Studenten der Universität von Jerusalem. Sie werden von weiteren Gruppen und betroffenen Palästinensern unterstützt.
Sheikh Jarrah ist ein Stadtteil jenseits der sogenannten “Grünen Linie”. Das ist die Waffenstillstandslinie aus dem Unabhängigkeitskrieg von 1948. Im Wesentlichen trennt sie den arabischen Ostteil Jerusalems vom jüdischen Westteil. Israelische Siedler haben jenseits dieser Linie nichts verloren.
Der Siedlungsbau geht weiter
Darum kümmern sich aber weder die Siedler noch Ministerpräsident Netanjahu.
Der hat unlängt im Interview den Amerikanern klar gemacht hat, wo es langgeht:
The building in Jerusalem – and in all other places – will continue in the same way as has been customary over the last 42 years.
Gegen vier Uhr kommen die Demonstranten nach Sheik Jarrah. Gruppenweise marschieren sie in die abseits gelegene Tobler-Straße, nahe der sogenannten Amerikanischen Kolonie.
Sheik Jarrah grenzt direkt an das jüdisch-orthodoxe Mea Schearim. In Mehrere Konsulate, Hotels und die UNWRA untergebracht.
Heute kommen vergleichsweise wenig Aktivisten und Sympathisanten, vielleicht 200 bis 300. Aber sie sind gut ausgestattet mit Plakaten, Fahnen und Trommeln.
Neben Hebräisch hört man hört englische, aber auch spanische und französische Stimmen, natürlich auch arabisch der teilnehmenden Anwohner. Die Nachrichtenagenturen Reuters und AP sind vor Ort.
Der Protestzug positioniert sich gegenüber der Einfahrt zu der Straße, die zu den neuen Gebäuden der jüdischen Siedler führt.
Die Einfahrt ist durch die Polizei gesperrt. Außerdem sind ein Dutzend Soldaten in voller Montur da, ein paar davon mit Schnellfeuergewehren. Das irritiert. Es handelt sich eindeutig um eine zivile Protestaktion. Selbst für den Fall, dass es zu Ausschreitungen kommt, hätte die Polizei das jederzeit im Griff. Wozu Militär da ist, kann kaum befriedigend beantwortet werden. Offenbar dient es der Einschüchterung.
Die Aktion besteht darin, die aus der Straße kommenden oder in sie hinein fahrenden Orthodoxen mit Sprechchören wie “Keine Siedlungen in Sheik Jarrah”, oder “Free Sheik Jarrah” zu beschallen. Auf einem gr0ßen Plakat wird an ein Motto der Universität von Jerusalem* aus dem Jahr 1948 erinnert, das Bezug nimmt auf die Gründung Israels:
Die Hebräische Universität von Jerusalem will die gewaltige Aufgabe unterstützen, eine moralische Gesellschaft im Geist der Propheten aufzubauen.
Besatzung ist unmoralisch
Dazu lauten die Sprechchöre
Es gibt nichts Moralisches in einer besetzten Stadt!
Nach etwa einer halben Stunde kommt Unruhe auf. Eine Gruppe bewegt sich über die Straße auf die Absperrung zu. Sofort setzen sich die Soldaten in Bewegung die zuvor auf einem kleinen Hügel in Warteposition waren. Sie bauen sich hinter der Absperrung auf.
Im Mittelpunkt der Hektik ist ein Demonstrant – vielleicht Mitte Dreissig – der sich mit dem Einsatzleiter der Polizei streitet. Offenbar fordert er Zugang zur eigentlich öffentlichen Straße. Neben ihm ist eine Palästinenserin mit einem Plakat: Es zeigt mehrere Bilder, wie sie und ihre Familie aus ihren ursprünglich dort befindlichen Häusern vertrieben wurden. Dieses Schicksal teilt sie mit weiteren 50 arabischen Familien.
Der Zugang wird der Gruppe natürlich verwehrt.
Abends berichte ich einer Jerusalemer Bekannten, wie es war: Bei allem Respekt vor den Aktivisten sei meine Befürchtung, dass die Geduld neu erbauter Siedlerwohnungen größer sei als die Ausdauer von Demonstranten. Die Gebäude stünden ja bereits. Und just an diesem Wochenende wurde zwei weiteren palästinensischen Familien der Räumungsbescheid ausgehändigt. Die Bekannte stimmt resigniert zu und fügt an: Wenn schon die Proteste von Millionen weltweit nichts nützten, was dann? Aber trotzdem müsse man das Richtige tun, für sich und für die nächste Generation.
Das ist wahr. Hartnäckigkeit hat sich bislang vor allem für die Siedler gelohnt. Höchste Zeit, dass sich Hartnäckigkeit für solche mutigen Aktivisten lohnt, wie man sie in Sheik Jarrah antrifft.
[ Update März 2011: Die Aktivistin Sara Benninga wurde soeben von der liberalen Organisation J Street für ihren Einsatz für Menschenrechte geehrt]
Kunstausstellung in Jerusalem
Auch das ist Jerusalem: In der äußerst noblen Flanier- und Einkaufsmeile Mamilla Avenue befindet sich derzeit eine Ausstellung von Bildern und Skulpturen moderner israelischer Künstler.
Zuerst dachte ich, es seien nur ein paar Stücke zur Zierde ausgestellt. Es sind aber bestimmt über 100 Exponate. Ich kann mich kaum erinnern, wann ich das letzte mal so beeindruckt war. Die Stücke waren meist paarweise angeordnet, also Bild plus Skulptur. Insbesondere die Skulpturen waren beeindruckend, da sie wirklich neue Ideen zum Ausdruck brachten. Hier nur drei Kostproben:
Was schrieb ich zum Auftakt meines Reiseberichts? Das erste, woran ich beim Stichwort Israel denken müsste, wäre “Attentat”. Ich weiß noch nicht, was sich dieses mal am eindrücklichsten festsetzt. Eins steht fest:
Next year in Jerusalem.
Shalom aus Israel, Schlesinger
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Photos:
Photos der Kunstausstellung Jerusalem Mamilla Ave. von www.cafetelaviv.de ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen – Verlinkung – 4.0 International Lizenz.
* Teile des Lehrkörpers der Universität unterstützt die Demonstranten und nehmen an den Protesten teil
Motto im engl. Original: The Hebrew University of Zion will advance the tremendous cause of building a moral society in the spirit of the prophets of Israel.