Dirk Niebel wollte nach Gaza…

Gazastreifen Karte
Image via Wikipedia

Dirk Niebel (FDP),  Entwicklungshilfeminister, wollte nach Gaza einreisen, um sich über die von Deutschland mitfinanzierten Energie-, Wasseraufbereitungs- und Kläranlagen zu informieren.

Da könnte ja jeder kommen.

Das sei nichts Persönliches, liess Yigal Palmor wissen, Sprecher des israelischen Aussenministeriums. Wenn sich Deutschland über die Verwendung seiner Steuergelder Sorgen mache, könne es ja einen Angestellten oder einen Fachmann schicken, denn hochrangige Politiker lasse man bekanntlich seit längerem nicht in den Gazastreifen, um eine politische Aufwertung der Hamas zu unterbinden.

Dann schob Palmor nach:

If we were to let Niebel enter, how could we say ‘no’ to ministers from other countries?

Vollkommen richtig: Wenn man Minister Niebel reinlasse, müsste man alle anderen auch reinlassen. Aber warum denn nicht, solange sie unverdächtig sind, sich mit Hamas solidarisch zu erklären?

Weil, wie Niebel für einen Politiker erstaunlich unverblümt sagte, Israel “Angst” habe? Richtig.

Selbstverständlich muss sich Israel Sorgen machen, was in die Welt hinaus getragen würde, wenn plötzlich hochrangige Politiker aus aller Herren Länder sehen würde, was von Gaza übrig geblieben ist nach der israelischen kollektiven Vergeltungsmaßnahme namens “Gegossenes Blei” in der Jahreswende 2008/09.

Hinsichtlich möglicher Presseberichte macht es natürlich einen großen Unterschied aus, ob Wasserbau-Ingenieur Müller etwas aus Gaza berichtet, oder ob es Minister Niebel oder gar Außenministerin Clinton ist (hat sie je angefragt, nach Gaza oder in die Westbank zu wollen?). Diesen feinen PR-Unterschied kennt man selbstredend auch in Jerusalem…

Niebel: 5 Minuten vor 12 für Israel

Dabei hatte Niebel schon im Vorfeld signalisiert, dass er in Gaza die Hamas kritisieren und das Recht Israels auf Selbstverteidigung verteidigen würde. Es hat ihm nicht geholfen. Mit der Zurückweisung reagierte der Israel-Unterstützer Niebel, der seit langem in der Deutsch-Israelischen Gesellschaft aktiv ist, für deutsche Verhältnisse sehr harsch. Er sei

betrübt, dass es Israel momentan auch seinen treuesten Freunden so schwer macht, sein Handeln zu verstehen.

Und dann, verschärfend:

Es ist für Israel fünf Minuten vor Zwölf.

Vielleicht, vielleicht erkennt selbst diese verstockte israelische Regierung angesichts der aktuell ungeheuren internationalen Kritik , dass der Spielraum klein geworden ist. Wahrscheinlicher ist, dass sich in ein paar Wochen der Rauch verzogen hat und nichts geschieht.

Zentralrat: Niebel zynisch und kindisch

Von der internationalen Lage völlig unbeeindruckt zeigt sich Stephan Kramer, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, der Niebel scharf attackiert:

Das ist kindisch und zynisch angesichts der israelischen Opfer in Sderot und andernorts durch Raketenangriffe aus dem Gazastreifen

Zynisch? Schade, dass  Herr Kramer so selten Zeitung liest.

Dann wüßte er, dass die “Selbstverteidigung” Israels gegen die Raketenangriffe aus Gaza 1400 Tote, Tausende Verstümmelte und Verletzte und eine weitgehende Zerstörung der Lebensgrundlagen mit sich gebracht hat – natürlich vor allem zu Lasten der zivilen Bevölkerung.

1,5 Millionen Juden eingepfercht?

Großer abwesender Gott: Was wäre, wenn heute 1,5 Millionen Juden seit Jahren eingepfercht wären und mit einem Krieg überzogen würden? Es wäre eine humanitäre, eine moralische Katastrophe sondersgleichen. Was ist es im Falle der Araber in Gaza? Ein diplomatisches Ärgernis.

Das alles ist nicht zynisch für Herrn Kramer. Vielleicht sollt er er einmal nach Gaza reisen. Als nicht prominenter Politiker hätte er eine Chance dazu. Aber das wäre zuviel Wirklichkeit für einen wie ihn, der sich offenkundig eingerichtet hat in der Gemütlichkeit des ewigen Opferdenkens.

Und was nun das “kindische” anbelangt: Dieses Urteil Kramers hat Anspruch auf die Fehlwertung des Jahres. Denn welcher Begriff könnte unpassender sein für alles, was mit dem Nahostkonflikt zu tun  hat?

Sich wie Herr Kramer fortgesetzt über die Internierung von 1,5 Millionen Menschen auszuschweigen ist nicht kindisch. Es ist obszön.

Was ist ein  Massaker?

Wie fragte der israelische Schriftsteller und Dozent an der Uni Tel Aviv Jitzchak Laor mit anklagendem Unterton: “Was ist ein Massaker? – 10 tote Israelis sind ein Massaker. 50 tote Palästinenser sind es nicht einmal wert, dass man mit dem Zählen anfängt.” Von diesem instruktiven Zynismus könnte Herr Kramer etwas lernen, anstatt andere vorschnell  abzuwerten.

Dirk Niebel hat sich nicht als Zyniker erwiesen, sondern als Realist. Ein bisschen Mut gehörte übrigens auch dazu.

— Schlesinger

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Pressespiegel:

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sueddeutsche.de, 6.21.10

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faz.net, 6.20.10

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Spiegel Online International, 6.21.10

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DW-World, 6.20.10

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Der Möchtegern-Blockadebrecher

“Niebel hätte von Anfang an wissen können, dass Gaza für ihn tabu ist.”

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