Ministerpräsident Benjamin Netanjahu pflegt seit Jahren die Geschichtsklitterung vom “freiwilligen” israelischen Rückzug aus Gaza in 2005.
Derzeit päppelt er seine Rückzugs-Mär weiter, weil er sich zusammen mit seinem Siedler-Außenminister Avigdor Lieberman vehement gegen die Zumutung aus Washington sträubt, der Besiedlung des Westjordanlands ein Ende zu setzen.
Netanjahus Darstellung zu Gaza geht so:
Man hätte niemals “freiwillig” aus Gaza abziehen dürfen, denn dieses “Entgegenkommen” gegenüber den Palästinensern hat sich in keiner Hinsicht ausbezahlt.
Es hat keinen Frieden gebracht. Die Sicherheitslage hat sich mit den bald einsetzenden Raketenangriffen der Hamas dramatisch verschlechtert. Im übrigen wurde der Zusammenhalt der israelischen Gesellschaft in Gefahr gebracht, weil man mit Gewalt gegen seine eigenen Landsleute vorgegangen ist.
Daraus muss Israel, wenn es nach dem amtierenden Ministerpräsidenten geht, seine Lehren ziehen.
Kein Abzug aus dem Westjordanland! Keine dadurch entstehenden Vertriebenen im eigenen Land.
Kurzum: Keine Zerstörung der israelischen Gesellschaft!
Der Adressat dieser Botschaft ist im Gegensatz zu früheren Wahlkampfzeiten nicht die eigene Bevölkerung, sondern US-Präsident Obama.
Washington soll klar gemacht werden, dass es mit seinen aktuellen Forderungen den Bestand Israels schlechterdings gefährdet.
Falsch an der Politik Netanjahus ist beides: Seine Interpretation der Vorgänge in 2005, und seine Prognose, die den (teilweisen) Abzug der Siedler betrifft.
Richtig ist, dass es in der Zeit vor dem Abzug aus Gaza erbitterten Streit gegeben hat. Der Abzug wurde zur großen Überraschung just von dem Mann angeordnet, der sich in den vorangegangenen Jahrzehnten als vielleicht die treibende Kraft hinter der Siedlerbewegung profiliert hatte: Ministerpräsident Ariel Scharon.
Die Rechte witterte Verrat und versuchte alles in ihrer Macht stehende, die Entscheidung Scharons rückgängig zu machen. Neben den bekannten fundamentalistischen Sprechern der Siedlerbewegung wie etwa der Bürgermeisterin der Siedlung Kedumim, Daniela Weiss, meldeten sich auch einflußreiche Militärs wie der vormalige Generalstabschef Rafael Eitan zu Wort, der Scharon dringend ersuchte, von seinem Entschluß Abstand zu nehmen.
Die Kundgebungen, Proteste und Erklärungen gingen monatelang laustark und öffentlichkeitswirksam vonstatten.
Die Lautstärke des damaligen Protests ist allerdings kein objektiver Gradmesser, um einen drohenden oder erfolgten Riß in der israelischen Gesellschaft zu belegen. Auch wenn Netanjahu das gerne hätte.
Vielmehr kann man sagen, dass der Graben zwischen der Siedlerbewegung einerseits und der profanen Bevölkerung andererseits längst bestanden hatte. Der Streit um den Abzugsplan machte die Kluft nur weithin sichtbar. In der Sache hatte sich nichts geändert.
Was war für den vormaligen Siedler-Freund Scharon dann das Motiv für den politisch riskanten Abzugsplan?
Eine neue Bruchlinie
In der Zeit vor dem Gaza-Abzug von 2005 hatte man ein gesellschaftliches Phänomen wahrgenommen, das offenbar brisanter eingeschätzt wurde, als der gewissermaßen “vertraute” Disput zwischen Siedlern und weltlichen Bürgern.
Diese Bruchlinie lässt sich beschreiben als der Verlust des Vertrauens in eine erfolgreiche Sicherheitspolitik, die seit der Staatsgründung 1948 bestand.
Der Sechtstagekrieg von 1967 hatte Israel eine nationale Euphorie sondersgleichen beschert.
Der Yom-Kippur-Krieg von 1973 war ein Beinahe-Desaster, das nur in letzter Minute abgewendet werden konnte.
Das Besatzungsregime in Gaza und der Westbank forderte nicht nur Menschenleben in den besetzten Gebieten, sondern einen hohen psychologischen Tribut. Immer mehr Soldaten gerieten in ernste Gewissenskonflikte. Das in Israel bis dato unbekannte Phänomen der Kriegsdienstverweigerung setzte ein.
Dann kam der Libanonkrieg von 1982. Nie war Israel innerlich zerrissener. In den Beiruter Palästinenserlagern von Sabra und Schatila hatte eine grauenvolles Massaker stattgefunden, das zwar nicht von der israelischen Armee durchgeführt, aber immerhin von ihr protegiert wurde.
In Tel Aviv kamen Hunderttausende zusammen, um gegen den Krieg zu demonstrieren. Ein Novum in der israelischen Geschichte. Ein Untersuchungsausschuß erkannte ein Mitverschulden der Armee an den Beiruter Massakern. Der damalige Verteidigungsminister Scharon mußte zurück treten.
Der politische Protagonist einer auf Frieden gerichteten Politik, Jitzchak Rabin, wurde 1995 von einem Siedler erschossen.
Mit den seit 2001 massiv einsetzenden palästinensischen Selbstmordattentaten, die mit großen Opfern unter der israelischen Zivilbevölkerung einhergingen, nahm das Bedrohungsgefühl im Lande eine neue Form an. Bislang waren die Feinde außen, nun schien die Gefahr überall zu lauern. Das kannte man ansatzweise von den wenigen irakischen Scud-Raketeneinschlägen während des Ersten Golfkrieges, aber nun kehrte es massiv zurück.
Schließlich kam der Zweite Libanonkrieg gegen die Hizbollah im Jahr 2002, der aus Sicht der meisten Israelis unzulänglich begründet war. Der Hauptverlierer des Krieges war für jedermann ersichtlich nicht die Hizbollah, sondern der Libanon.
Zahllose israelische Soldaten brachten ihre desillusionierenden Erfahrung mit nach Hause, stellten den Sinn des Kriegs ebenso in Frage wie dessen unverhältnismäßige Durchführung.
Parallel dazu gab es immer mehr Befehlsverweigerungen im noch immer besetzten Gaza, wo sich die israelische Armee seit Ende 2000 gegen die Aufständischen der Zweiten Intifada behaupten musste, es aber mit immer weniger Überzeugung tat.
Erschwerend kam hinzu, dass Soldaten immer wieder Befehle erhielten, auch auf nicht an Kämpfen beteiligte Zivilisten zu schiessen.
Soldaten berichteten der Presse im Inland und Ausland. Das sorgte für große Irritationen. Der moralische Status der Armee wurde einmal mehr in ernste Zweifel gezogen. Gruppen wie “Breaking the Silence” bildeten sich, und brachten neben der Presse die Mißstände ans Licht der Öffentlichkeit.
Ein besonders schwerer Vorfall ereignete sich im Mai 2004. Ein israelischer Konvoi geriet in Gaza-Stadt in einen Hinterhalt. Durch eine Straßenbombe wurden vier Soldaten zerrissen. Zeitgleich wurden sieben israelische Soldaten Opfer einer Attacke nahe dem Flüchtlingslager Rafah.
In der anschliessend von Generalmajor Harel angeordneten “Sicherungsaktion” wurden mehrere Tausend Palästinenser aus ihren Wohnungen vertrieben und rund 50 erschossen. Berichten zufolge war die gesamte Aktion als Rache angelegt.
Der Glauben der Bevölkerung an die Besatzungspolitik, an die Sinnhaftigkeit eines Kampfes gegen die Intifada, an die Armee und schließlich das Vertrauen der Soldaten an die eigene Führung schwand weiter.
Die sicherheitspolitischen Ereignisse von 1973 bis in die Zeit vor 2005 haben somit in Israel zu einem unerhörten Vertrauensverlust geführt, der sich seit der Jahrtausendwende noch zu beschleunigen schien.
Scharon, als militärischer Retter Israels im Yom-Kippur-Krieg ein Kriegsheld und Tatmensch, suchte nach einer Lösung für diesen schleichenden Zerfallsprozess. Seine Strategie hieß: Vollständige Entkopplung. Möglichst weit weg von den Palästinensern. Kurzum: Abzug.
Man kann nun über die Erfolgsaussichten dieser Strategie diskutieren. Darum aber geht es hier nicht. Die damalige Führung, mit Scharon an der Spitze, sah schlicht keinen Sinn mehr darin, den bisherigen Weg weiter zu gehen. Sie entschied sich für eine radikale Lösung.
Andernfalls hatte man nicht nur fortbestehende, kaum kalkulierbare militärische Risiken zu fürchten – von kaum erträglichen Besatzungskosten ganz zu schweigen -, sondern einen weiter zunehmenden, irgendwann nicht mehr zu kittenden Riß in der Gesellschaft.
Wenn vor diesem Hintergrund Netanjahu davon spricht, man habe sich “freiwillig” und in einer Art “Friedensgeste” aus Gaza zurückgezogen, darf man das getrost als rein interessengeleitete Interpretation abtun, zumal die Verkünder dieser Behauptung stets unterschlagen, dass Gaza seit 2005 einem Hochsicherheitstrakt gleich hermetisch abgeriegelt ist.
Was nun die die in Jerusalem verhasste Forderung Washingtons anbelangt, die Siedlungen in der Westbank einzustellen, lässt sich vor dem Hintergrund des bisher Dargelegten sagen: Ein solcher (Teil-) Abzug ist schlicht unabdingbare Voraussetzung für künftigen Frieden.
Dafür ist ein Preis zu entrichten, gewiß. Er steht jedoch in keinem Verhältnis zum Frieden, der gewonnen werden kann.
Aus erweiterter Perspektive: Solange Israel den Palästinensern ein Leben in Würde und Selbstbestimmung verweigert – durch Abrieglung von Gaza, Aufrechterhaltung der Besatzung in der Westbank, schleichende Übernahme Ostjerusalems, Wasser- und Landraub – darf es nicht auf Frieden hoffen.
Netanjahus Taktik besteht darin, Obama die alte Geschichte vom ewig bedrohten israelischen underdog zu verkaufen. Das dürfte, vielmehr: Das darf in Washington nicht mehr ziehen.
Die Sicherheit Israels wird nicht von Obama bedroht – sondern von einem egomanischen Ministerpäsidenten mit dem unscheinbaren Kosenamen Bibi.
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Lesehinweis: Die Darstellung zu Scharons Strategiewechsel in 2005 ist eine politologische Interpretation des Verfassers, keine historische belegte Darstellung (was nicht ausschließt, dass sie historisch belegbar sein könnte).
— Schlesinger