Netanjahu nimmt an, in den Vereinten Nationen sitzen besonders begriffsstutzige Menschen. Anders lässt sich sein aktueller Auftritt vor der Vollversammlung nicht erklären.
Halb leeres Haus, und standing ovations nur für Mahmoud Abbas
Zur Verdeutlichung seiner nimmermüden Warnung vor einem atomaren Iran griff er zum Filzstift, um auf einer comic-haften Darstellung einer Bombe die berühmte “rote Linie” zu zeichnen und dem Publikum entgegen zu halten. Dazu führte er aus:
The hour is getting late, very late.
We must face the truth
Er fügte hinzu Sanktionen hätten das Atomprogramm des Iran nicht gestoppt. Was man jetzt benötige sei
a clear red line on Iran’s nuclear weapons program.
And by next spring, at most by next summer, at current enrichment rates, they will have finished the medium enrichment and moved on to the final stage.
From there it’s only a few months, possibly a few weeks, before they get enough enriched uranium for the first bomb.
Obama hat diese “rote Linie” bislang nicht gezogen, obwohl er mehrfach betont hat, einen nuklearen Iran nicht zuzulassen.
Die anhaltend aggressive 5-vor-Zwölf-Rhetorik des israelischen Premierministers dürfte für Obama Grund gewesen sein, seinem Kollegen während der aktuellen UN-Versammlung aus dem Weg zu gehen.
Das ficht Netanjahu nicht, der zuletzt robust in den US-Wahlkampf eingegriffen hat – zugunsten von Mitt Romney. Diese rote Linie – sich als israelischer Premierminister aus den US Wahlen herauszuhalten – hat Netanjahu vorsätzlich überschritten.
Richtig: Auch amerikanische Präsidenten haben auf israelische Wahlkämpfe eingewirkt.
Als sich der frühere israelische Ministerpräsident Jitzchak Shamir gegenüber George H.W. Bush (Bush sen.) weigerte, einen Siedlungsstopp in den besetzten Gebieten zu verhängen, hielt Bush kurzerhand eine 10-Millionen-Kreditgarantie zurück. Dass Shamir die guten Beziehungen zu Washington offenbar gefährdete, spielte im Wahlkampf durchaus eine Rolle. Shamir unterlag gegen seinen Herausforderer Jitzchak Rabin.*
Dass Netanjahu heute den Spieß umdreht und Mitt Romney ins Amt bringen möchte, ist für sich genommen moralisch nicht schlechter als die damalige Maßnahme von Bush dem Älteren.
Aus pragmatischer Sicht stellt sich lediglich die Frage, ob es für einen israelischen Regierungschef ratsam ist, sich derart massiv gegen einen amtierenden US Präsidenten zu stellen, der mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wiedergewählt wird. Denn nach wie vor gilt, dass es letztlich nur zwei internationale Stützen Israels gibt, die ihr nahezu bedingungslos beistehen: Die USA und der Großteil der dort lebenden jüdischen Gemeinde.
Die dritte rote Linie zog Netanjahu gegenüber Palästinenserpräsident Abbas.
Netanjahu bezeichnete dessen vorangegangene Rede als “Verleumdung“. Damit und mit dem einseitigen palästinensischen Versuch, einen Staat auszurufen, sei der Konflikt nicht zu lösen:
we won’t solve our conflict with libellous speeches at the United Nations [or with] unilateral declarations of statehood
Dabei erinnerte Netanjahu die Welt daran, wie sehr Israel Modernität und Gerechtigkeit verkörpere – ganz im Gegensatz zu den mittelalterlichen Gesellschaften, die Israel umgeben.
Dabei griff er zu Formulierungen, die an messianische Prophezeiungen vom Endkampf des Guten gegen das Böse erinnern:
For today, a great battle is being waged between the modern and the medieval.
The forces of modernity seek a bright future in which the rights of all are protected, in which an ever-expanding digital library is available in the palm of every child, in which every life is sacred.
The forces of medievalism seek a world in which women and minorities are subjugated, in which knowledge is suppressed, in which not life but death is glorified.
These forces clash around the globe, but nowhere more starkly than in the Middle East.
Israel stands proudly with the forces of modernity.
We protect the rights of all our citizens: men and women, Jews and Arabs, Muslims and Christians – all are equal before the law.
— Schlesinger
Photo: screenshot Al Jazeera, Bildbearbeitung T.A.B.
* The breakdown in Israeli efforts to get American help in obtaining economic development loans took root Sunday as a hot topic in the election race here between incumbent Prime Minister Jitzchak Shamir and his chief opponent, the more dovish Jitzchak Rabin.
The rapid movement of the issue from the diplomatic to the electoral battlefield highlights the importance relations with the United States will have in this June’s Israeli elections. […]
For the first time, an American administration is putting teeth into its belief that settlement expansion is an obstacle to peace. […]
The paper quoted an official close to Shamir as saying, “It is difficult to prove, but I think the Administration wants to help Rabin.”
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