Dieser Tage ist mir ein Buch von Yali Sobol in die Hände gekommen. Mir ist unklar, ob Sobol im Hauptberuf Musiker seiner Rockband Monica Sex ist oder Schriftsteller.
Nach der Lektüre seines Romans Die Hände des Pianisten wünschte ich, er würde sich ganz der Schritstellerei widmen.
Yali Sobol: Die Hände des Pianisten
Eins vorweg: Dieses Buch ist ein literarisches Meisterwerk.
Yali Sobols Roman ist eine Dystopie zu einem Israel in einer nicht weit entfernten Zukunft:
Israel befindet sich in der Zeit kurz nach einem verlustreichen Krieg gegen einen nicht näher bezeichneten Feind. Wer der Feind ist und wer den Krieg begonnen hat wird nicht erwähnt. Das ist ein handwerklicher Kniff, der zu einer Atmosphäre allgemeiner Unsicherheit beiträgt, die sich durchs ganze Buch zieht.
Israel befindet sich in einem nationalen Notstand, in dem der starke Mann der Armee die Führung des Landes übernommen hat.
Das Land steht unter Militärverwaltung. Eine neue Notstandverordnung gibt den Sicherheitsbehörden weitreichende Befugnisse. Rechtsstaatlichkeit war gestern.
Der Kampf gegen die mutmaßlichen Feinde Israels im Inneren, die die neue Führung auf der linken Seite des politischen Spektrums verortet, hat hohe Priorität.
Unschuldig schuldig
Ein junges Paar gerät in die Mühlen des Sicherheitsapparats.
Sie, Chagit, arbeitet in einer Redaktion als Cutterin. Unvermittelt bekommt sie von einem geschätzten Redakteur-Kollegen einen USB-Stick mit brisantem Material zugesteckt. Da sie dem Kollegen etwas schuldet nimmt sie den Stick an und versteckt ihn. Sie hält sich an dessen Mahnung, den Inhalt nicht anzusehen.
Wie wir erfahren geht es um eine Vergewaltigung und den anschliessenden vermeintlichen Selbstmord einer Kellnerin eines Promi-Nachtclubs. Der Verdächtige: Der Sohn des Oberbefehlshabers. Ein Unberührbarer.
Im Grunde ist diese Handlung zufällig. Es geht eigentlich nicht um die Straftat eines Angehörigen der Elite. Es geht darum, wie sich die Verhältnisse in einem Staat radikal geändert haben, nachdem er von einer leidlich funktionierenden Demokratie gekippt ist in einen anderen Zustand.
Weiter in der Story: Der Sicherheitsapparat sucht mit aller Macht nach dem USB-Stick und allen, die damit in Verbindung stehen. Die Schlinge um Chagit und alle Beteiligten zieht sich jeden Tag enger.
Der Ehemann Chagits ist begnadeter Pianist. Joav lebt nur in der Welt der Musik. Die gesellschaftlichen Veränderungen um sich herum nimmt er kaum wahr.
Das ändert sich dramatisch durch den nächtlichen Überfall der Geheimpolizei auf das Paar. Die Polizisten stellen die ganze Wohnung auf den Kopf. Im Wohnzimmer steht auch Joavs geliebter Flügel.
Der Leiter der Aktion, Inspektor Wildner, genießt den Horror von Chagit und Yoav, als er die Tastatur des kostbaren Instruments mit einem Schraubenzieher eigenhändig auseinander bricht.
Die große Schreibkunst Sobols zeigt sich in der Miniatur dieser Szene der Zerstörungs eines Klaviers: Sobol verknüpft die gutmütige, aber politisch weltfremde Perspektiv von Joav mit der allgemeinen bedrohlichen Veränderung im Land, und drückt das aus in einer musikalischen Empfindung Joavs:
Das überraschte Knirschen des zersplitternden Holzes wurde untermalt von einem tiefen Summton.
Joav verspürte den unkontrollierbaren Drang, diesen Ton zu identifizieren. Es war irgend etwas zwischen a- und b-Moll, ein unklarer Viertelton, ein Ton, der in der westlichen Musik nicht existiert.
Latente Bedrohung wird zur Brutalität
Ab diesem Ereignis schlägt das im Buch zunehmend aufgebaute Gefühl der latenten Bedrohung durch den Staat um in eine handfeste, spürbare Brutalität.
Die Schilderung des jungen, humanitäts-vergessenen und karriere-versessenen Inspektor Wildners ist eine psychologische Meisterleistung Sobols. Gerade weil der Autor auf jegliche drastische Gewaltschilderung durch diesen Verhörspezialisten verzichtet. Sobol breitet nur die kalte Gedankenwelt dieses Folterers aus. Wie sich Wildner vor seinem Gang in den abwechselnd stockdunklen und dann gleissend hellen Verhörraum ausmalt die verhaftete Chagit in die Zange zu nehmen – das alles mit unterschwellig sexuellen Anklängen -, lassen dem Leser vor Ekel die Nackenhaare sträuben.
Ab da wird es nur noch schlimmer. Das Ende soll nicht verraten werden.
Sagte ich schon? Ganz große Literatur!
Negative Utopie oder reelle Vision zu Israel?
Man kann das Buch nur als eine allgemeine Dystopie im Stil von Orwells “1984” oder Huxleys “Schöne neue Welt” lesen, oder als konkrete verstörende Zukunftsvision zu Israel.
Dass Israel sich womöglich nicht allzu weit von diesem Zustand befindet ist plausibel. Mit jedem Jahr nimmt die äußere Bedrohung für Israel zu: Iran, Hisbollah und Hamas. Dass es sich zumindest bei Hamas und der Hisbollah um sprichwörtlich selbst erzeugte Feinde handelt, ändert nichts daran, dass sie heute als Feinde existieren. Da sie existieren und die von ihnen ausgehende Gefahr faktisch groß ist fürchtet sich der israelische Staat immer stärker vor echten oder vermeintlichen Kräften, die die innere Geschlossenheit gefährden.
Seit Jahren geht die Regierung Netanjahu immer stärker gegen linke Nichtregierungs-Organisationen vor. Allen israelischen Institutionen, die vom Staat mitfinanziert werden ist es per Gesetz verboten, an die doppelte Vertreibung der Palästinenser der Jahre 1948 und 1967 zu erinnern.
Käme nun ein weiterer verlustreicher Krieg oder eine andere massive gewaltsame Erfahrung im Innern oder aäußern dazu – und ist das nicht nur eine Frage der Zeit? – wären alle Zutaten vorhanden, um die schreckliche Vision Sobols Wirklichkeit werden zu lassen.
Den Ton hat unlängst der Sohn von Premierminister Netanjahu gesetzt:
Linke Organisationen, die von ausländischen und feindlichen Regierungen, linken Politikern und Medien finanziert werden, die immer auf der Seite des Feindes und gegen die jüdischen Interessen stehen…
Sie sind in jeder Hinsicht Verräter.
— Schlesinger
Link zum Kunstmann-Verlag mit dem Klappentext
Falls Sie sich das Buch bestellen wollen, BITTE nicht bei FUCKAZON, sondern beim lokalen Buchhändler Ihrer Wahl, beim sozialen Buchversand buch7.de oder direkt beim Kunstmann-Verlag (siehe Link zuvor). Danke!
Bild: Photomontage Buchumschlag & diverse Pressetexte