Die Sheinkin Street in Tel Aviv ist einer der hippesten Straßen der Stadt. Sagen die Reiseführer. Wird einem erzählt. Nun ja, sie war es vielleicht einmal.
Wie so oft verflüchtigt sich das Trendsetter-Publikum, wenn sich zu viel normales Publikum einstellt oder gar Touristen. Offen gesagt lässt sich auch mit Phantasie nicht vorstellen, was die Straße einmal ausgemacht haben soll.
Ja, sie hat nette Shops, ja, sie hat ein paar hübsche Bars und Kneipen, und ja, ein paar Ecken sind schön anzuschauen. Kurzum, man kann dort einen vergnüglichen Einkaufsbummel machen. Das gilt besonders für jüngere Frauen auf der Suche nach Schuhen, Klamotten oder Taschen. Davon gibt es hier mehr als reichlich.
Wer aber andere schräge Plätze hier oder in anderen Städten kennt – dazu fällt mir als erstes das verrückte Camden Town in London ein, wo halbe US-Straßenkreuzer oder ein drei Meter hoher Elvis aus Hausfronten ragen – der findet an der Sheinkin nichts Besonderes.
Der Zorn der Orthodoxen
Besonders fallen mir nur zwei Orthodoxe um die Dreissig auf. Sie stehen an einer Art Pult und verteilen Broschüren. Sie fallen zum einen deshalb auf, weil man in ganz Tel Aviv kaum Orthodoxe sieht – während geschätzten 15 Kilometer auf dem Rad habe ich gestern vielleicht sieben wahrgenommen -, und zum anderen deshalb weil sie ihre Heftchen wie trocken Brot anbieten.
Die Leute gehen an ihnen vorbei wie man bei uns an den Zeugen Jehovas mit ihrem “Wachtturm” vorübergeht. Meist desinteressiert, manchmal genervt. Als die beiden bemerken, dass ich in ihre Richtung photographiere, rufen Sie mir ein zorniges “no photo!” zu.
Zornig scheint überhaupt die treffende Beschreibung für die Orthodoxen zu sein.
Im nördlichen Tel Aviv erstreckt sich die wunderschöne, riesige Parkanlage. entlang des Yarkon-Flusses. Das ist besonders am Shabbat ein sehr begehrtes Ausflugsziel für Familien. Wer an so einem Tag durch das Gelände radelt oder spazieren geht, wird Tausende gut gelaunter Menschen antreffen, die meist in großen Gruppen opulente Buffets oder Grillfeste veranstalten. Dazwischen spielende Kinder, fliegende Frisbees, herumjagende Hunde, zwei Waschbrettbäuche, die Karate üben, ein Trapezseilkünstler bei seinem Seilgang, Gitarrenklänge, im Schatten der vielen Bäume Arm in Arm dösende oder palavernde Päarchen und vieles mehr.
Zwischen diesen vielen Tausend Leuten kamen mir an diesem Shabbat-Nachmittag drei orthodoxe Paare entgegen, eins davon mit einem Kind. Der Unterschied zwischen ihnen und den übrigen könnte größer nicht sein.
Sie haben allesamt ernst, düster oder zornig geschaut. Auch das Kind. Das Kind vielleicht eher traurig. Es hätte bestimmt lieber mit den anderen einem Fußball nachgejagt. Sie trugen schwarze oder graue Kleider, die schon abgetragen waren. Sie alle waren – das mag politisch unkorrekt sein – unansehnliche Erscheinungen. Nach längerer Beobachtung fiel auf, dass sie fast nie die anderen ansehen. Ihr Blick ist mehr oder weniger starr nach vorne gerichtet. Sie wollen nicht teilhaben an diesem Tohuwabohu um sie herum.
Es ist unübersehbar, dass diese Menschen hier einen ideologischen Kampf austragen. Diesen Kampf führen sie gegen den Rest der Welt, die in diesem Fall eine jüdische Welt ist. Sie sehen sich als die Gerechten inmitten der Hure Babylon.
Nur: Es ist ein einseitiger Kampf. Denn die Menschen um sie herum machen sich nichts aus ihnen. In Jerusalem ist es anders. Dort sorgen die Zornigen dafür, dass man sie nicht übersieht.
— Schlesinger
Photos: T.A.B., CC Lizenz (nicht-kommerzielle Übernahme bei Verlinkung und Benennung www.transatlantikblog.de)