Erst drei Tage hier und schon süchtig. Habe gerade mein leckeres Frühstück zusammengestellt. Betrachte alles mit große Vorfreude. Lasse mir den Kaffeeduft in die Nase steigen. Draußen glitzert das Mittelmeer in sattem Blau und der Olivenbaum vor dem Eingang silbrig wie bei uns die Pappeln. Wundervoll! Und trotzdem. Unruhig wandert mein Blick über den Frühstückstisch. Ich schaue mir alles an, aber etwas fehlt. Ein Anflug von Unruhe überkommt mich. Klares Anzeichen von Sucht, schießt mir durch den Kopf. Der Hoummus fehlt! Schnell hin zum Büffet, um ein Schälchen davon zu ergattern. Während meines entschlossenen Ganges zur Anrichte stelle ich mich in Gedanken dazu bereit Gäste, die in niederer Gesinnung eventuell den letzten Rest davon zu nehmen beabsichtigen, zur Seite zu schubsen. Sucht kennt keine Gnade.
Während ich mit dem Frühstück anfange und an solchen belanglosen Gedankenspielereien meinen Spaß habe, genügt ein Blick in die Zeitung um zu wissen, daß man nicht zuhause sondern in Israel ist.
Die Bildbearbeitung zu meinem Frühstück steht auf meinem Bildschirm neben der Online-Ausgabe der Haaretz. Was für ein Kontrast. Und so etwas wie ein Symbol für die Lage hier.
Über wachsende Spannungen im Norden wird berichtet. “Spannungen im Norden” ist ein Synonym für “Hisbollah”. Die schiitische Hisbollah, die im Libanon sowohl im Parlament vertreten ist, als auch über starke paramilitärische Kräfte verfügt, führt in Kürze ihr Frühjahrsmanöver im Süden des Landes durch. Das ist an der Nordgrenze zu Israel.
Die israelische Armee (die Haaretz schreibt “Heimatfront”) beginnt ihrerseits mit Übungen von Gaza im Südwesten bis zum Golan im Nordosten.
Bei dem israelischen Manöver mit dem Codenamen “Turning Point 4” (“Wendepunkt 4”) handelt es sich anderen Medienberichten zufolge um das größte bislang überhaupt abgehaltene Manöver.
Man will sich damit auf alle denkbaren Kriegsszenarien einstellen: Raketenangriffe auf israelisches Kernland, schmutzige Bomben und elektronische Kriegführung.
An den militärischen Aktivitäten beteiligen sich offenbar auch Einheiten von Polizei, Feuerwehr und des Medizinischen Dienstes Magen David Adom*. Am kommenden Mittwoch werden landesweit die Alarmsirenen ertönen (ich werde dann schon in Jerusalem sein).
Zuletzt war viel die Rede von neuen Raketen, die die Hisbollah erhalten haben soll. Durch die Medien geisterte der aus dem Ersten Golfkrieg allseits bekannte Begriff “Scud”, was aber aufgrund des Alters dieses Waffensystems kaum zutreffen dürfte. Letztlich ist aber uninteressant, um welches Raketenmodell es sich handelt.
Entscheidend ist nur, ob die Hizbollah solche Waffen erhalten hat und was sie damit bewirken kann. Von dem üblichen “linken” Pauschal-Vorwurf, die Meldungen über Waffenlieferungen seien allesamt von Israel oder den USA lanciert, ist gar nichts zu halten. Aus einem einfachen rationalen Grund: Die Hisbollah ist – ebenso wie die Hamas, ebenso wie die israelische Armee – grundsätzlich daran interessiert, sich so stark wie irgend möglich aufzustellen.
Wer glaubt ernsthaft daran, die Hisbollah will bis auf weiteres mit Kalaschnikows und Kassam-Raketen gegen die IDF antreten? Hat also die Hisbollah die Möglichkeit, an moderne Waffensysteme zu gelangen, wird sie es selbstverständlich tun oder schon getan haben. Da sich deren Interesse mit dem Interesse des Iran und Syrien trifft, sprechen alle Gründe dafür.
Damit nicht beantwort ist die Frage, ob die Hisbollah die Waffen jetzt schon hat und ob sie sie offensiv einsetzen würden. Ich würde sagen: Ja, sie hat sie schon. Das jedenfalls kann man den Worten ihres Anführers Nasrallah entnehmen, es sei denn, man unterstellt ihm in diesem Punkt Schaumschlägerei:
Ich sage zu den Israelis: Wenn ihr den internationalen Flughafen in Beirut beschießt, dann beschießen wir den Airport in Tel Aviv. Wenn ihr unsere Häfen attackiert, werden wir eure treffen. Wir wollen keinen Krieg, aber wir sind dafür verantwortlich, unser Land zu verteidigen.
Und nein, die Hisbollah wird die Raketen bis auf weiteres nicht offensiv einsetzen. Weil sie als Parlamentskraft seit längerem “offiziell” für die Geschicke des Libanon mitverantwortlich ist und ein von ihr geführter Angriffskrieg den Libanon mindestens so furchtbar treffen würde wie in 2006. Das würde seitens der Bevölkerung des Libanon, die keineswegs nur aus Schiiten zusammengesetzt ist, mindestens zu Teilen der Hisbollah angelastet.
Was nun einen israelischen Präventivschlag anbelangt, sollte man meinen, das sich Regierung und Militärs darüber im Klaren sind, daß mit jedem weiteren Jahr und damit jeder weiteren technischen Entwicklung der Waffensysteme das Risiko steigt, selbst empfindlich getroffen zu werden.
Man kann vielleicht soweit gehen zu sagen, daß in 2006 der letzte Feldzug gegen den Libanon war, aus dem Israel zwar gebeutelt, aber noch mit einem blauen Auge davon gekommen ist. Die Hisbollah dürfte – soviel kann man aus dem Kriegsverlauf 2006 ableiten – besser denn je auf eine Mischung aus asymmetrischem und regulärem Krieg vorbereitet sein.
Israel hat sich vielleicht im Vorfeld seiner Waffengänge von 2000 bis heute Illusionen darüber gemacht, was es gewinnen könnte. Der Gewinn traf nie ein. Was sich geändert hat ist dies: Man durfte von israelischer Seite immer annehmen, dass man wenig zu verlieren hat. Genau das trifft höchst wahrscheinlich nicht mehr zu.
In Zeiten des Kalten Krieges hieß das: mutual deterrence. Gegenseitige Abschreckung. So zynisch das sein mag, aber vielleicht bewahrt nur so ein Gleichgewicht des Schreckens die Balance. Für Israel muss klar sein, dass sich die Strategie der so oft beschworenen Härte gegenüber den echten oder mutmaßlichen Feinden überlebt hat.
Hoffentlich geht alles glimpflich aus.
— Schlesinger
Nachtrag: Sollte es noch jemand geben, der sich für Politik in Israel interessiert und der den israelischen Animationsfilm “Waltz with Bashir” noch nicht gesehen hat? Schleunigst nachholen!
* übersetzt: Roter Schild Davids, entspricht unserem Roten Kreuz
Photo: Eigene (Bildvorlage auf dem Frühstückstisch Haaretz)