Theodor Herzl, der geistige Vater des Staates Israel, glaubte an die Kraft der Technik und des Fortschritts.
Für Herzl waren die Errungenschaften der Moderne das Fundament für den neu zu gründenden jüdischen Staat, nicht Religion oder Kultur. Damit stellte er sich gegen den sogenannten “Kulturzionismus”, dessen berühmtester Vertreter Achad Haam war (mit bürgerlichem Namen Asher Ginzberg).
Herzl wollte zwar einen Judenstaat gründen, aber dieser Staat musste nicht zwangläufig nur aus jüdischen Bürgern bestehen. Damit steht der Staatsgründer offenkundig im Gegensatz zur Auffassung der heutigen israelischen Rechten mit Premierminister Netanjahu an ihrer Spitze, die mit dem Nationalstaatsgesetzes nicht-jüdische Bürger Israels zu Personen zweiter Klasse gemacht haben.
Einer der bedeutenden zeitgenössischen Chronisten der frühen zionistischen Bewegung, Adolf Böhm, schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts über die Haltung Herzls:*
Fortschrittsglaube in Herzls Romanen Judenstaat & Altneuland
“Im Jahr 1902 veröffentlichte Herzl einen Zukunftsroman unter dem Titel „Altneuland“ mit dem Motto:
Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.
Zitat Theodor Herzl
Dieser utopische Roman, der die Besitzergreifung und Kolonisierung Palästinas schildert, zeigt deutlich, wie Herzl sich das Tempo der Besiedlung vorstellte.
Nach Erlangung des Charters (der Genehmigung zur Ansiedlung in Palästina, Anm.) wird eine Genossenschaft, die „Neue Gesellschaft”, mit zwei Millionen Pfund Kapital gegründet, die in kürzester Zeit den nötigen Boden erwirbt, die erforderlichen Utensilien in aller Welt zusammenkauft und gleichzeitig die Liquidierungs- und Übersiedlungsarbeiten für den Einwandererstrom besorgt.
Zu dieser Gesellschaft können auch Nichtjuden gehören, sofern sie ihre Ziele akzeptieren.
In wenigen Monaten ist eine halbe Million Ansiedler untergebracht. In kaum zwanzig Jahren (1923) ist ein blühendes, starkes Gemeinwesen entstanden.
An der technischen Möglichkeit hierfür zweifelte Herzl nicht. Schon im „Judenstaat” hatte er seinen Glauben an die Wunderkraft der Technik stark betont:
Schon scheint das Wort „unmöglich” aus der Sprache der Technik verschwunden zu sein.
Auch die Gestaltung der sozialen Frage hängt nur von der Entwicklung der technischen Mittel ab.
Theodor Herzl in seinem Buch “Der Judenstaat”
Technische und soziale Einrichtungen sind deshalb in Altneuland in höchster Blüte.
Von hebräischer Sprache und spezifisch jüdischer Kultur ist in dem Roman keine Rede.
Kein Wunder, daß Achad Haam in einer ausführlichen und scharfen Kritik das Buch ironisierte.
Achad Haam: Israel könnte auch ein “Negerstaat” sein
Diese ganze Staatsgründung, so schrieb Haam, könnte ebensogut Neger als Juden betreffen, da sie als eine rein technisch-formale gekennzeichnet und von einem spezifisch-jüdischen Inhalt nichts zu merken sei.
Nathan Birnbaum nannte die Auffassung Herzls, nach der die Ansiedlungsfrage als ein rein technisches Problem erschien, eine „mechanistische”.
In der Tat ist dieser Roman als kein sehr gelungenes Werk Herzls anzusehen. Wenn das Buch auch infolge seiner literarischen Qualitäten und des menschlich warmen Empfindens, das ihm innewohnt, vielfach wirkte, so hat es in der Entwicklung des Zionismus keine Rolle gespielt, es ist nur als ein interessantes Dokument früherer Anschauungen und gewisser persönlicher Meinungen Herzls pietätvoll aufbewahrt worden.
Max Nordau: Haam ist ein Feind des Zionismus
Auf Wunsch Herzls schrieb Max Nordau eine Entgegnung auf die Kritik Achad Haams, in der er einen Ton anschlug, der als ungehörig empfunden werden mußte. Er nannte Achad Haam den schlimmsten Feind des Zionismus und, da er sich gegen das Offenhalten der „Neuen Gesellschaft” für Nichtjuden ausgesprochen hatte, ein verkrüppeltes Opfer der russischen Intoleranz, seine Aufsätze ein „Gefasel“ und beschuldigte ihn der „Bauernfängerei“. Man müßte, so sagte er, vor einer derartigen Mißbildung des Geistes Abscheu empfinden, wenn das Mitleid nicht vorwiegen würde! Es regnete natürlich Proteste gegen diese wüste Verunglimpfung des bedeutenden und mit Recht hoch verehrten Mannes, insbesondere von seiten der Mitglieder der „Fraktion“.
Herzls Verdienst: Die Politisierung der Judenfrage
Wenn man rückschauend diese Polemik in ihrer rein sachlichen Bedeutung werten will, so ist man versucht zu sagen, daß Achad Haam mit all seinen Vorstellungen vollkommen Recht gehabt hat, damit aber durchaus nicht Herzl und den Herzl’schen Zionismus entwerten konnte. Herzls zionistische Tat‚ die, wie man heute feststellen kann, niemand anderer als er zuwege gebracht hätte, war die Politisierung der Judenfrage, die Verfolgung des einen einzigen Zieles: der Erlangung des Charters, den er mit Recht als Vorbedingung der Schaffung einer jüdischen Heimstätte angesehen hat, worauf die Massenwanderung einzusetzen hätte. Die Befolgung seines Prinzips hat diesen Erfolg schließlich gebracht. Es ist nicht an sich, wohl aber für die Bedeutung Herzls in der jüdischen Geschichte völlig gleichgültig, ob er auch die richtigen Vorstellungen davon gehabt hat, wie die Juden in der Heimat ihre Sprache, Kultur, Einrichtungen etc. entwickeln werden. Wenn Herzl selbst auch keine hebräische Kultur besaß, so lag sein Judentum in seiner geistig-seelischen Haltung, in dem Wesen seiner Ideale begründet, er war, danach gewertet, ein Jude von idealster Art und ist deshalb eine legendäre Figur für sein Volk geworden.”
David Ben-Gurion, der Staatsgründer Israels, orientierte sich ganz an Theodor Herzl: Die Masseneinwanderung mußte zustande kommen, und das Land musste mit Arbeit und Technik aufgebaut werden.
“Jüdische Arbeit” – ein Begriff, der zum politischen Schlagwort wurde – würde den neuen jüdischen Menschen schon schaffen.
— Schlesinger
Photo: Wikimedia (Gemeinfrei)
* Adolf Böhm, Die Zionistische Bewegung, Wien 1935, S. 207 ff.
Zwischenüberschriften, Erläuterungen in Klammer (“Anm.”) und Hervorhebungen nicht im Original.