Passend zum gestrigen Beitrag, ob die USA gemeinsam mit Israel den Überwachungsstaat perfektionieren, schreibt heute Detlef Esslinger von der Süddeutschen Zeitung etwas zum Thema
Gemeinsame Werte
Esslinger beobachtet, dass die Enthüllungsberichte von Edward Snowden bei den Deutschen nicht deshalb so viel Beifall finden, weil sie daraus einen konkreten Nutzen ziehen könnten. Vielmehr sei es so, dass die NSA-Skandale alle bisher vorhandenen Ressentiments gegenüber Amerika verstärken würden.
Das ginge so weit, dass man sogar Lob für Putin findet, weil der doch so gradlinig ist und aus seinen Interessen keinen Hehl macht. Das sei doch besser als die amerikanische Scheinheiligkeit.
Offenbar gibt es aktuelle Umfragen, denen zufolge 43 % der Deutschen die NATO oder ein anderes westliches Bündnis lieber ohne amerikanische Beteilung sehen würden.
Abu Ghraib
Was hält uns davon ab, uns endgültig von den USA zu distanzieren, nachdem so viele Gründe dafür sprechen?
Welche Werte verbinden uns mit einem Land, das so etwas wie Abu Ghraib zu verantworten hat? Das nach Meinung seiner neo-konservativen Strategen ab und zu ein Land an die Wand schmettern sollte – nur aus Prinzip? Das ohne echten Grund den Irak zerschlagen hat? Das Vietnam als Trümmerfeld hinterliess?
Die Antwort ist zuerst eine Gegenfrage: Auf welchem hohen Ross sitzen Leute, die solche Verfehlungen mit der denkbar grössten moralischen Verachtung abliefern, wo doch ihre Nation vor nicht allzu langer Zeit halb Europa in Schutt und Asche legte und den Holocaust zu verantworten hat?
Auf Misstände darf man sehr wohl zeigen. Nur macht der sich zum Holzkopf, der dabei das Maß aus den Augen verliert und anschliessend, aufgrund von Hilflosigkeit oder Weltfremdheit, das Gute in der Ferne sucht.
Bruder Putin ?
Sollten Deutsche, sollten Europäer mehr mit Russland oder China gemeinsam haben als mit Amerika (oder England, das im Irak offenbar auch gefoltert hat)? Das kann nur ein böser Scherz sein.
Dasselbe gilt sinngemäß für Israel. Dieses Blog übt regelmässig Kritik an der Politik Israels gegenüber den Palästinensern.
Sollte das ein Grund sein, sich von Israel als Ganzes zu distanzieren? Absurd. Ohne Arabern im allgemeinen oder Palästinensern im Besonderen zu nahe treten zu wollen: Kulturell stehen wir Israel sehr nahe, ebenso wie den Amerikanern. Wir haben weitgehend funktionierende Gerichte, persönliche Freizügigkeit, eine leidlich intakte Wirtschaft, sehr mässige Korruption usf. Das war abstrakt formuliert. Israel gefällt mir einfach als Land sehr gut, ich fühle mich vor Ort pudelwohl, mag das Essen, die Museen, die Weine, das bunte Leben. Es ist wie zuhause, nur ein bisschen anders. So einfach ist das.
Es ist wie mit einem Familienmitglied, das man wirklich sehr gerne hat. Wenn man schlechte Seiten an ihm erfahren muss, ist man stärker davon betroffen, als wenn man dieselben Fehler an einem beliebigen anderen Menschen sehen würde. Deswegen verstösst man nicht seine Familie. Eine perfekte Welt wird es nie geben. Man muss versuchen, die Familie zu schützen, so lange sie noch genügend Eigenschaften hat, die schützenswert sind, und “schützen” heisst gerade nicht nicht wegsehen oder nachgiebig dulden. Wer diese grundlegenden Zusammenhänge nicht versteht, hat wahrscheinlich ein ganz anderes Problem.
Einen “Bruder Putin” jedenfalls will und kann ich mir gar nicht vorstellen.
Deshalb hat Esslinger vollkommen recht, wenn er den Deutschen die Formel “Wir teilen ein paar Werte mit den Amerikanern” durchgehen lässt, dann aber scharf abgrenzt:
Mag ja sein – aber mit Putin nicht einmal das.
Warum dann mein gestriges Gerede vom drohenden Überwachungsstaat USA, Israel oder Deutschland?
Nicht um zu zeigen, wie verkommen die drei Länder sind. Schon gar nicht um zu zeigen, dass Putin ein “lupenreiner Demokrat” ist, wie der jämmerlich gekaufte Ex-Bundeskanzler Schröder in selten gesehenem Opportunismus meinte.
Sondern um zu warnen vor dem drohenden Verlust. In den USA. In Israel. Bei uns.
Kaum jemand hat diesem offenbar so kultivierten Deutschland damals zugetraut freiwillig und absichtsvoll in den Abgrund der Barbarei zu marschieren. Und doch…
Die Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie ist sehr trickreich in ihren Variationen.
Wenn wir uns nicht vor uns selbst schützen – wer dann?