Sie wissen nicht, wie Propaganda funktioniert?
Es ist nicht ganz einfach, aber wie oft lernt man am besten aus praktischer Anschauung.
Der Jerusalem-Korrespondent Nathan Shachar der schwedischen Tageszeitung Dagens liefert in der Süddeutschen Zeitung ein Paradebeispiel, wie effiziente Propaganda – im hebräischen: Hasbara – strukturiert sein muss, um beim unbedarften Leser maximale Wirkung zu erzielen:
- Relativierung von Unrecht, das die eigene Seite verschuldet (die Relativierung soll vorzugsweise in mehreren Dimensionen erfolgen: historisch, geografisch, quantitativ)
- Beschönigung von Mißständen, die die eigene Seite verschuldet oder begünstigt
- Bekräftigung von leidlich guten Lebensverhältnissen derer, die man unterdrückt
- Erhöhung des Schuldanteils Dritter (Ägypten)
- Maximierung der vermeintlich oder tatsächlich schlechten Motive des Gegners
- Einstreuung vermeintlich wohlmeinender Aussagen über den Gegner
- Signalisieren von Verständnis
- Verwendung ablenkender Hinweise oder Anekdoten
- Verwendung harmloser, unscheinbarer, im besten Fall eleganter Formulierungen (oder umgekehrt: Vermeidung aufwiegelnder, gehässiger, radikaler Formulierungen. Diese Form benutzte man früher. Heute wird sie nur verwendet von Gruppierungen wie Hamas oder Hisbollah in Verkennung der Tatsache, dass man damit nur die eigenen schon überzeugten Leute anspricht, aber die Neutralen verprellt.)
Gaza ist “das ewige Patt“, titelt Shachar in seinem ganzseitigen Beitrag.*
Die angebliche Pattsituation bezieht sich offenkundig auf das Verhältnis Gaza – Israel. Damit hat Shachar bereits in der Überschrift die erste von zahlreichen Zumutungen produziert. Denn ein Patt ist eine Situation, in der keine Partei gewinnen kann, in der ein Gleichgewicht der Kräfte herrscht. Zwischen Israel und den Palästinensern herrscht ein Gleichgewicht der Kräfte? Das ist absurd.
Shachar beginnt seinen Beitrag mit der geografischen Größe Gazas. Alle Welt geht zurecht davon aus, dass Gaza ein kleines Gebiet umfasst (360 qkm, das sind vierzig Prozent von Berlin). Dem will Shachar entgegenwirken. Der Besucher Gazas würde mit “Überraschung” feststellen, dass die dortigen Strände “endlos” wirkten und “beeindruckende Aussichten” böten. Der deutsche Archäologe Stark, so wird amüsant eingeflochten, sei noch in den Fünfziger Jahren “erschaudert” angesichts seines “zermürbenden” sechsstündigen Kamelritts durch Gaza. Das soll uns sagen, dass Gaza erstens nicht klein ist und die Einwohner zweitens fast in einem Strandparadies wohnen. Zweifellos hat Gaza schöne Strände. Leider wird der Genuß der Strandbesuche beeinträchtigt durch die ungereinigten Abwässer der durch israelischen Beschuss immer wieder ausfallenden Kläranlagen. Auch die Ansicht der nahe der Küste patroullierenden israelischen Kanonenboote, die die Küste Gazas hermetisch abschirmen, erinnert allzu oft daran, unter welchen Bedingungen man hier lebt. Der Gazastreifen wird auch durch Vergleiche mit Kamelritten nicht größer als er ist, denn immerhin müssen sich knapp eineinhalb Millionen Menschen in den Städten und Siedlungen drängen, da weite Teile des Gebiets recht unwohnlich sind.
Der Autor, so berichtet er, ist mit 22 Jahren erstmals in den Gazastreifen gekommen, um dort über ein von Israel finanziertes Wohnprojekt für palästinensische Flüchtlinge zu berichten. Die PLO habe seinerzeit alles unternommen um das Projekt zu sabotieren, sei aber gescheitert. Die “israelischen Hoffnungen” aufgrund der palästinensischen “Freude über die Annehmlichkeiten” hätten sich aber nicht bewahrheitet. Wir lernen: Israel reicht den Palästinensern schon seit langem die Hand, um in Feindschaft und Undankbarkeit zurück gewiesen zu werden. Dieses Sujet ist unter Israelis weit verbreitet und wird seit langem und immer wieder geäußert. Die Crux: Man will nicht einsehen, dass die den Palästinensern zustehenden grundlegende Rechte wie etwa die Hoheit über das eigene Land oder die Rechte des Individuums nicht veräußerbar sind und sporadische israelische Wohltätigkeiten kein Ersatz dafür sein können. Im Gegenteil: Man sieht sie zurecht als Bestechungs- und Ablenkungsversuche an.
“Der Gaza-Streifen ist ein junges weltpolitisches Konzept”, erfährt der Leser in einem folgenden Absatz. Weltpolitisch bedeutet gemeinhin, dass viele Staaten in einem politischen Prozess involviert sind. Ein Konzept stellt einen Plan dar, ein gedankliches Konstrukt, wie ein gedachter oder gewünschter Zustand erreicht werden soll. In Bezug auf Gaza trifft beides offenkundig nicht zu, sieht man davon ab, dass die systematische Abriegelung Gazas durch Israel sehr wohl ein israelisches Konzept sein könnte. Aber das wird derAutor kaum im Sinn gehabt haben. Er will vielmehr den Eindruck erwecken, dass Gaza das Produkt eines internationalen politischen Prozesses ist. Damit soll Israel zum Teil aus seiner Verantwortung für die kollektive Isolierung der Bevölkerung von Gaza entlassen werden.
Die Situation in Gaza ist eine Art Schicksal, legt Shachar nahe: “Dem Küstenstreifen zwischen der ägyptischen Wüste und dem grünen levantinischen Binnenland war bestimmt, eine Hauptverkehrsstraße für Armeen zu werden.” Beklagt sich jemand, dass Israel den Gazastreifen miltärisch abriegelt? Das muss ein historischer Laie sein, suggeriert der Autor zwischen den Zeilen, denn alleine die Ägypter hätten das Gebiet 55 mal “überwältigt, augeplündert und niedergebrannt”. Israel scheint nichts anderes zu tun, als eine historische Notwendigkeit umzusetzen, denn seit Menschengedenken stritten sich Mächte um Gaza. Wer könnte Israel verübeln, auf der Siegerseite stehen zu wollen?
Im Krieg von 1948 strömten viele palästinensische Flüchtlinge aus dem Süden Palästinas nach Gaza. Manche sind geflohen, andere wurden vertrieben, und da die Wüste Sinai eine natürliche Barriere darstellt und die Kriegspartei Ägypten sich weigerte Flüchtlinge aufzunehmen wurde Gaza zum überfüllten Fluchtpunkt. Soweit zutreffend die Beschreibung Shachars. Doch “keiner der Beteiligten dieses Dramas, weder die fassungslose örtliche Bevölkerung noch die verzweifelten Flüchtlinge, die Quäker-Einrichtungen oderdas UN-Personal […] nahm an, dass die Notlage von Dauer sein würde. Doch sie erwies sich als unumkehrbar.” Unumkehrbar? Sollte hier ein weiteres mal das unerbittliche Schicksal wirken? Was sonst bedeutet “unumkehrbar”? Die Dinge sind wie sie sind und keiner kann etwas dafür? So äußert sich ein Apologet, der anstelle konkreter menschlicher Handlungen höhere Mächte und Käfte ins Spiel bringen will, um der Verantwortung für das konkrete menschliche Handeln zu entgehen.
“Heute werden die Häfen, der Luftraum und die Grenzen [von Gaza] von Israel und Ägypten kontrolliert” schreibt der Autor und spricht damit zwar keine Unwahrheit aus, aber verzerrt die Wahrheit gehörig. Denn die Grenzübergänge von Gaza nach Israel werden im Norder und Osten sowie zur See hin von Israel kontrolliert oder genauer genommen: abgeschottet. Der Luftraum über Gaza unterliegt der Hoheit der israelischen Luftwaffe. Flugrechte von und nach Gaza gibt es keine. Ägypten kontrolliert den Grenzübergang Rafah, der seit der ägyptischen Revolution zum Teil geöffnet wurde. De facto ist Israel die Herrin über die Grenzen Gazas. Ägypten kontrolliert exakt 1 Grenzübergang. Von einer Art gemeinsamen Kontrolle durch Israel und Ägypten kann also keine Rede sein.
Es ist aber nicht so, dass Shachar keine Sympathie für die Palästinenser hätte. Denn trotz der ägyptischen Herrschaft über Gaza von 1948 bis zum Sechstagekrieg 1967, die “grausam, rassistisch und korrupt” gewesen sein soll – offenbar im Gegensatz zur israelischen “aufgeklärten Besatzung”, wie das Selbstverständnis lautet -, trotz der von Einschüssen übersäten Gebäude, die noch aus der Zeit der deutsch-englischen Kämpfe von 1917 (!) stammen, und trotz der Strafmaßnahmen des israelischen Generals Ariel Scharon, der den bewaffneten militärischen Widerstand in Gaza mit “drastischen Maßnahmen zerschlagen” und auch sonst in Gaza “eingegriffen” habe, würden die Palästinenser in Gaza “Lebendigkeit und Offenheit” ausstrahlen. Ob die Einschüsse deutsch-englischer Kämpfe von 1917 heute tatsächlich jemandem auffallen sollten, darf man gelinde gesagt bezweifeln angesichts der zahllosen Luftangriffe, die Israel im Krieg von 1008/09 (“Gegossenes Blei”) geflogen hat. Scharon hat als Führer der berüchtigten Einheit 101 tatsächlich in Gaza “eingegriffen”. Sein Eingreifen wie zum Beispiel beim Massaker von Qibya in der Westbank trugen ihm bei den Palästinensern den Kosenamen “der Schlächter” ein.
Diese Beispiele sollen genügen, um die Strategie von Nathan Shachar aufzuzeigen. Diese Strategie ist keineswegs seine persönliche. Es ist vielmehr die Linie, die vom mainstream der Verteidiger israelischer Brutalität verfolgt wird.
Das konnte zu Zeiten von Leon Uris fürchterlich verlogener Schmonzette “Exodus” funktionieren, als die Leser noch keine Möglichkeit hatten, den Wahrheitsgehalt zu untersuchen. Im übrigen wollte man auch träumen und sein romantisches Mitgefühl ausleben.
Heute kann jederman der will den Alptraum sehen, der sich in Palästina abspielt. Insofern ist der Artikel von Shachar zwar ärgerlich, aber letztlich kontraproduktiv. Er baut auf die Naivität der Leser. Und damit baut er auf Sand.
— Schlesinger
* SZ v. 08.08.11 Feuilleton