Netanjahu hat seine Regierung hingeschmissen.
Die nächsten Wahlen in Israel sind für den 15. März angesetzt.
Tom Friedman, einflussreicher Publizist und Korrespondent der New York Times, sieht in den kommenden Wahlen einen Wendepunkt für Israel:
Das Land muss sich aus der Beherrschung durch rechts-nationale Kreise befreien, in denen radikale Siedler und Ultra-Orthodoxe das Sagen haben. Mit diesem Klientel ist kein Frieden mit den Palästinensern möglich. Schafft Israel diese Befreiung nicht, wird es in völlige politische Isolation geraten; isoliert von Europa, von Amerika, aber auch von der nächsten Generation amerikanischer Juden.
Dieser Befund stimmt nur zum Teil.
Ob sich Amerika in absehbarer Zeit von Israel distanziert, ist mehr als fraglich. Richtig: Netanjahu zankt sich pausenlos mit Obama. Aber: In derselben Zeit hat Amerika die historisch größten finanziellen und militärischen Zuwendungen an Israel geleistet. Das zeigt vor allem eins: der Bund zwischen Israel und Amerika beruht gerade nicht auf der persönlichen Zuneigung oder Abneigung der jeweils amtierenden Regierungschefs. Der Bund ruht auf einem massiven Fundament – die unzähligen Verbindungen beider Länder im politischen, wirtschaftlichen, militärischen, wissenschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Bereich.
Die Stärke des jüdischen Lobbyverbands AIPAC wäre ohne dieses Fundament undenkbar. Dass liberale, progressive jüdische Bewegungen wie JStreet zunehmend populär werden und zu konservativen Gruppierungen wie AIPAC in Konkurrenz treten, mag sein. Am Fundament können sie kaum rütteln.
Dass sich Teile Europas von Israel distanzieren könnten, mag sein. Aber was zählt Europa?
Friedman hält den amtierenden Ministerpräsidenten Netanjahu für einen “formidablen” Kandidaten. Inwiefern Netanjahu formidabel sein soll, irritiert den Leser zunächst. Denn Netanjahu ist schließlich für genau jenen Rechtsrutsch verantwortlich, den Friedman verurteilt und von dem er meint, er könnte mit den nächsten Wahlen schlimmer werden. Wieso also könnte Netanjahu trotzdem ein guter Kandidat sein? Die Antwort gibt Friedman nur indirekt.
Gibt es nach Friedman einen Ausweg aus dem verfahrenen Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern? Ja.
Dazu lässt Friedman Amos Yadlin zu Wort kommen, einen früheren Geheimdienst-Chef.
Yadlin sieht drei Möglichkeiten, den Konflikt zu beenden:
(1) durch bilaterale Verhandlungen; aber das habe sich zuletzt in den Verhandlungen von 2014/14 als unmöglich erwiesen
(2) in Form einer überarbeiteten Arabischen Friedensinitiative; die arabischen Länder müssten zugleich als Hebel gegen und Unterstützung für die Palästinenser genutzt werden
Wenn die ersten beiden Versuche scheitern:
(3) einseitiger Rückzug aus den besetzten Gebieten; zu eigenen Konditionen, insbesondere der Einrichtung sicherer Grenzen
Zu (1) bilaterale Verhandlungen
Friedman lässt die Behauptung Yadlins unkommentiert stehen, dass man mit den Palästinenensern nicht verhandeln könne.
Palästinenser wollen gar nicht verhandeln: das ist seit langem ein israelisches Ammenmärchen, das der Westen gerne übernommen hat.
Aber gerade in der jüngeren Vergangenheit hat sich wieder das Gegenteil gezeigt; der Fernsehsender Al Jazeera hat im Jahr 2011 viele hundert Dokumente der palästinensischen Unterhändler als sogenannte “Palestine Papers” veröffentlicht (auch “PaliLeaks” genannt). Darin wurde ersichtlich, wie viele Zugeständnisse die palästinensische Seite gegenüber Israel bereit war zu machen. So viele, dass die PLO mitsamt ihrem Chefunterhändler Saeb Erekat als Verräter verunglimpft wurde, weshalb Erekat zurücktrat und die palästinensische Führung schwer beschädigt zurück blieb.
Zu (2) modifizierte Arabische Friedensinitiative
Leider hat Friedman nicht nachgefragt, was Yadlin genau meint mit einer modifizierten Arabischen Friedensinitiative. Die sogenannte Arabische Initiative hat von Anfang an eine gute Basis geboten. Leider ist Israel nie darauf eingegangen. Hinter dem Begriff Modifizierung könnte auch nur die allzu oft angewandte Methode Israels stecken, einen Vorschlag so lange stark zugunsten der eigenen Interessen verändern zu wollen, dass die Araber und Palästinenser nur Nein sagen können. Womit Israel einmal mehr behaupten kann, es habe keinen Partner für den Frieden.
Zu (3) Einseitiger Rückzug
Friedman läßt auch Yadlins dritte Variante unkommentiert stehen.
Einseitiger Rückzug? Das hört sich verlockend an. Als wäre dann alles gut: Israel zieht sich aus der arabischen Westbank zurück; die Palästinenser haben ihren eigenen Staat.
Das ist illusorisch.
In Wirklichkeit würde ein einseitger Rückzug bedeuten:
– volle israelische Souveränität über die C-Gebiete; wahrscheinlich teilweise oder ganze Annexion dieser Gebiete
– alle großen und größeren und sonstig “strategisch wichtigen” jüdischen Siedlungen würde Israel behalten, unabhängig von A-, B- oder C-Gebieten
– aus “Sicherheitsgründen” würde Israel im ganzen Jordantal militärisch präsent bleiben; das bedeutet eine faktische Abriegelung der Westbank gegenüber Jordanien und Syrien, d.h. eine Abriegelung gegenüber der gesamten Region
– Verfügungsgewalt über das jüdische Siedlungs-Straßennetz, das weiterhin nur die Siedler nutzen dürfen, und das die arabische Westbank in hunderte Parzellen zerteilt
– faktische Verfügungsgewalt über die Wasser-Ressourcen der Westbank
– Kein palästinensischer Zugang zum Mittelmeer (Gaza)
– aus “Sicherheitsgründen” : Oberhoheit über den Luftraum
Offenbar kann eine “Friedenslösung” diese Form annehmen, und dafür die Zustimmung von Tom Friedman finden.
Deswegen ist Netanjahu auch ein “formidabler Kandidat”. Weil er in der Nachfolge des früheren Ministerpräsidenten Ariel Scharon steht. Weil Scharons Rückzug aus Gaza im Jahr 2005 als Blaupause dient. Weil Netanjahu robust genug ist, so etwas durchzuziehen. Denn genau das brauche Israel, so schrieb Friedman in 2005: einen taffen Kerl, einen Scharon, keinen mister nice guy. Dann könne man auch aus der Westbank abziehen.
Dieser Rückzug würde viele publikumswirksame Bilder liefern. Schon die Räumung von ein paar unwichtigen Siedlungen würde in unzähligen Sendungen weltweit zeigen, wie sich Polizisten und Soldaten mit jüdischen Siedlern prügeln, wie Frauen trotzig und lautstark in Sitzblockade gehen, wie Kinder weinen, wie Gebete unter freiem Himmel gesprochen werden, und ja, wie Verwünschungen gegenüber der Regierung ausgesprochen werden.
Das würde aller Welt auf eindrückliche Art zeigen, wie sehr so ein Abzug eine “schmerzhafte Konzession” ist.
In Wahrheit wäre das nur ein trügerischer Schein.
Der Abzug aus Gaza im Jahr 2005, so sollten wir uns erinnern, diente einzig und allein dazu, jeden echten Friedensprozess zu zerstören, ihn in Formaldehyd einzulegen. So hat es Dov Weisglass ausgedrückt, der damalige Berater von Ministerpräsident Scharon.
Dasselbe Ziel hätte ein einseitiger Abzug aus der Westbank. Nur die Konsequenz wäre radikaler: das definitive Ende jeder friedlichen Lösung.
Ein einseitiger Abzug würde die palästinensischen Gebiete vollends zu einem Zombie-Dasein verurteilen. Die Palästinenser, die ihr Land verlassen könnten, würden nach und nach gehen.
In zwanzig oder dreissig Jahren würde sich Israel die kümmerlichen Überbleibsel dieser Enklaven einverleiben, ohne dass es jemanden interessierte.
Israel, unter Führung des formidablen Benjamin Netanjahu, muss den einseitigen Abzug nur ebenso gut verkaufen wie damals Scharon.
Was will Tom Friedman mit diesem Artikel? Schwer zu sagen. Ist er nur ein bisschen einfältig, weil er die grob geschnitzten Entwürfe von Amos Yadlin bewirbt und dazu einen Netanjahu empfiehlt, um das umzusetzen? Oder ist Friedman ein kalt berechnender Autor, der seine beachtliche Leserschaft nur einlullen und ablenken will?
Israel hat die Wahl.
Theoretisch ja.
Praktisch: Glückwunsch, Bibi !