Jenseits aller subjektiven Interpretationen gibt es auch im Nahostkonflikt objektive Tatsachen.
Die Tatsachen müssen als Grundlage genommen werden, um überhaupt eine Chance auf einen Ausgleich zu haben.
Dieses Prinzip muss vor allem ein Außenminister einhalten, der nach eigenen Angaben daran interessiert ist, einen Beitrag zum Nahost-Friedensprozess zu leisten.
Vergangenen Sonntag war Guido Westerwelle zu Gast bei Jauch.
Thema: Auge um Auge, Zahn um Zahn – Niemals Frieden in Nahost?
Die Runde war mit dem Nahost-politisch aktiven Dirigenten Daniel Barenboim, dem ehemaligen israelischen Außenminister in Deutschland Avi Primor, einer deutsch-palästinensischen Politologin, Fatah-Botschafter Salah Abdel Shafi und eben Guido Westerwelle erfreulich hochrangig und – abgesehen von Westerwelle – kompetent besetzt.
Hier soll es nur um Westerwelle gehen.
Zur Frage Jauchs nach den Gründen für die letzte Auseinandersetzung wollte Westerwelle zunächst Grundsätzliches sagen:
Hamas sei nicht die Repräsentanz der Palästinenser. Das sei (heute) der gewählte Präsident Mahmoud Abbas.
Hier unterschlägt Westerwelle, dass die vor 2006 in Gaza und der Westbank regierende Fatah jahrelang längst fällig gewesenen Parlamentswahlen immer wieder verschleppte, weil sie einen Sieg der Hamas fürchtete (1996 war die letzte Wahl).
Das auszulassen ist eine lässliche Sünde. Die folgenden Sünden wiegen schwerer.
Den Putsch, den es so nicht gab
Hamas habe in Gaza “geputscht” – das vergesse man leicht!, so betont der Minister ausdrücklich.
Das ist bemerkenswert: Wie kann man vergessen, was nie stattgefunden hat?
Das Gegenteil trifft zu. Hamas hat in den regulären Wahlen 2006 für das Gesamt-Palästinensische Parlament 74 Sitze errungen. Die Fatah 45.
2006 ELECTION
Die Wahlen wurden nahezu vorbildlich durchgeführt, wie die EU-Beobachterkommission bestätigte:
The conduct of these elections has provided a model for the wider Arab region and has clearly demonstrated the commitment of the Palestinian people to democracy.
Die Kommission fasste dabei zusammen:
Open and well-run parliamentary elections strengthen Palestinian commitment to democratic institutions.
Das Wahlergebnis hat die Fatah ebenso schockiert wie die US Regierung unter G.W. Bush (jr.).
Auch Israel war nicht amüsiert.
So fanden sich die drei zusammen und ersonnen einen Putsch gegen Hamas. Diesmal stimmt der Satz.
Das alles liegt seit langem offen zutage:
Nachdem das Weisse Haus den Wahlsieg der Hamas über die Fatah in den Wahlen von 2006 nicht vorhersah, fabrizierte es ein weiteres skandalöses Nahost-Debakel, das in einer selbstverschuldeten Niederlage endete: Ein bisschen Iran-Contra-Affäre, ein bisschen Schweinebucht.
[…] Präsident Bush, Condoleeza Rice, und der Stellvertretende Nationale Sicherheitsberater Elliott Abrams unterstützten eine bewaffnete Macht unter der Führung des starken Mannes der Fatah [in Gaza] Muhammad Dahlan, und traten damit in Gaza einen blutigen Bürgerkrieg los, der die Hamas stärker zurück ließ als sie zuvor war.*
Das bestätigt auch David Wurmser, in jener Zeit Nahostberater von Vizepräsident Dick Cheney:
Für mich sieht das was passiert ist so aus, als wäre es weniger ein Umsturz seitens Hamas gewesen, sondern ein Umsturzversuch der Fatah, dem die Hamas zuvor gekommen ist.**
So also gelangten US-finanzierte Waffen und Munition über die ägyptische Grenze zu Gaza in den Streifen und in die Hände der “Sicherheitskräfte” Dahlans. Dadurch gestärkt nahmen sie den bewaffneten Umsturzversuch vor. Die Hamas siegte und vertrieb viele Fatah-Mitglieder aus Gaza.
Aufgrund der Wahlniederlage trat Fatah-Ministerpräsident Ahmed Qurei zurück. Designierter Ministerpräsident wurde Hamas-Führer Ismael Hanija, der im März 2006 vereidigt wurde.
Angesichts der Gewalt in Gaza und der Übernahme der Regierung durch Hanija zog das “Nahost-Quartett” wesentliche Finanzierungshilfen von Palästina ab. Israel hielt Steuerzahlungen von monatlich rund 50 Mio. Dollar bis auf weiteres zurück. Washington forderte einen 50-Millionen-Dollar Kredit zurück.
Im Juni 2007 entließ Präsident Abbas Ministerpräsident Hanija und ersetzte ihn durch Salam Fayyad. Dieser Vorgang sollte den promovierten Juristen Westerwelle interessieren, war er doch widerrechtlich: Abbas durfte zwar Hanija absetzen, aber niemanden Neues einsetzen ohne die Zustimmung des Parlaments.
Das alles vergisst man leicht – oder hat es nie gewußt.
Nun stellt sich die Frage: Sollte Außenminister Westerwelle in Bezug auf den von ihm behaupteten “Putsch” tatsächlich eklatant uninformiert sein?
Das ist schwer vorstellbar, denn jeder Minister verfügt üblicherweise über mehrere kompetente Berater.
Daraus folgt: Er kennt den richtigen Sachverhalt, behauptet aber vor einem Millionenpublikum wissentlich das schiere Gegenteil.
Sollte letzteres zutreffen, gibt es dafür einen Begriff: Lügner.
— Schlesinger
Photo: Screenshot ARD / Jauch
PS.: Das Interview mit David Rose von Vanity Fair findet man noch auf Youtube (leider in schlechter Qualität)
Grafik: BBC
* After failing to anticipate Hamas’s victory over Fatah in the 2006 Palestinian election, the White House cooked up yet another scandalously covert and self-defeating Middle East debacle: part Iran-contra, part Bay of Pigs. […] President Bush, Condoleezza Rice, and Deputy National-Security Adviser Elliott Abrams backed an armed force under Fatah strongman Muhammad Dahlan, touching off a bloody civil war in Gaza and leaving Hamas stronger than ever.
** It looks to me that what happened wasn’t so much a coup by Hamas but an attempted coup by Fatah that was pre-empted before it could happen
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