Der Zentralrat der Palästinensischen Befreiungsorganisation hatte 1988 von Algier aus den Staat Palästina ausgerufen. Das war vor 23 Jahren. Es blieb bei einem symbolischen Akt.
Den nächsten Anlauf unternahm die Palästinenserführung im Vorfeld der Friedensverhandlungen von Camp David im Jahr 2000:
Die Palästinenserführung hat in Gaza Beratungen über die Modalitäten eines unabhängigen Palästinenserstaates aufgenommen. […]
Die Staatsgründung werde am 13. September stattfinden, bekräftigte am Samstag Sakaria Agha, Mitglied des Exekutivkomitees. […]
In Gaza wurde davon ausgegangen, dass etwa 130 Staaten bereit sind, das unabhängige Palästina auch dann anzuerkennen, falls es bis zum 13. Septemnicht zu einer Einigung mit Israel kommt.
Es wird erwartet, dass die Europäische Union und auch die USA zu diesem Schritt bereit sind. Offiziell lehnt Israel einen solchen einseitigen Schritt ab. *
Nach dem Scheitern von Camp David drohte Israel Arafat mit militärischer Intervention, sollte der einen unabhängigen Staat ausrufen. Arafat ließ sich beeindrucken und ließ davon ab. Es wäre auch organisatorisch kaum machbar gewesen, da die Zweite Intifada längst im Gange war und alle politischen Kräfte gebunden hatte.
Nach einem verheerenden palästinensischen Selbstmordattentat inmitten einer jüdischen Hochzeitsgesellschaft in einem Hotel in Netanja, bei der im März 2002 dreissig Menschen ums Leben kamen und 140 verletzt wurden, begann Israel mit der größten militärischen Aktion seit dem Libanonkrieg und besetzte in der Operation “Defensive Shield” weite Teile der West Bank.
Arafat wurde in seinem halb zerstörten Regierungssitz in Ramallah hermetisch eingeschlossen. Arafat, der schon zuvor deutlich gealtert war, konnte sich davon weder politisch noch gesundheitlich erholen. Als er im Jahr 2005 starb, bereitete sich im Gazastreifen die Hamas darauf vor, die politische Bühne zu übernehmen.
Infolge der regulären Machtübernahme der Hamas – sie hatte im Frühjahr 2006 in demokratischen Wahlen die Mehrheit erlangt – kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Hamas und der Fatah, in der die Fatah unterlag.
Nachdem sich die von der Fatah dominierte Palästinensische Selbstverwaltung (PA) auf die West Bank beschränkt sah, bestand ihr vordringlichstes Ziel in der Abwehr einer Hamas-Dominanz in diesem Gebiet.
Diese Abfolge der Ereignisse verdeutlicht, dass es seit 2002 kaum eine Chance für die Ausrufung eines unabhängigen Staates Palästina gab.
Nach dem verheerenden Gazakrieg in der Jahreswende 2008/09 ist ist eine relative Ruhe eingekehrt. So groß die menschliche Tragödie sein mag: Pragmatisch betrachtet war der Krieg für die Fatah bzw. die PA eine Erleichterung, da Hamas unter enormen Druck geraten ist.
Folgerichtig konnte man erst in 2009 das Thema erneut aufgreifen. Im Spätjahr sorgte Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas für Unruhe auf israelischer Seite, als er öffentlich vom Plan sprach, die Ausrufung eines Staates einseitig vornehmen zu wollen. Der damalige israelische Präsident Peres hat dieses Ansinnen umgehend schroff abgelehnt. Dies ginge nur über den Verhandlungsweg:
A Palestinian state cannot be established without a peace agreement. It’s impossible and it will not work. It’s unacceptable that they change their minds every day. Bitterness is not a policy.
Die sogenannten “direkten Verhandlungen“, die in recht unbedarfter Art im vergangenen Jahr von US Präsident Obama der israelischen und palästinensischen Seite oktroyiert wurden, haben sich vorhersehbar schnell festgefahren. Aus Sicht der palästinensischen Seite kann es keine erfolgreichen Verhandlungen geben, solange der jüdische Siedlungsbau nicht beendet wird.
Endstatus-Verhandlungen über einen Flickenteppich?
Seit dem der von Israels Premierminister Netanjahu zwischenzeitlich für zehn Monate verhängte “Siedlungsstopp” – der nie einer war – ausgelaufen ist, werden die Bautätigkeiten in der West Bank und in Ost-Jerusalem ungehemmt forciert.
Der springende Punkt: Es ist schlicht nicht mehr viel übrig, was einen einen palästinesischer Staat ausmachen könnte. Die zahllosen Siedlungen legen ein Netz über die West Bank, das ein reibungsloses Funktionieren eines Staates so gut wie unmöglich macht. Solange es nach 1967 nur wenige Siedlungen gab, war das Problem überschaubar. Das gilt heute nicht mehr. 42 Prozent des Landes stehen unter israelischer Kontrolle:
Die wieder und wieder vorgebrachten Hinweise Jerusalems, der endgültige Status müsse in einvernehmlichen Verhandlungenfestgelegt werden, hat seine Relevanz verloren. Warum?
Das arabische Ballungszentrum Ost-Jerusalem, das über die längste Zeit kulturelles und ökonomisches Zentrum für die Menschen im Westjordanland war, ist seit Anfang des neuen Jahrtausends durch den Kordon des israelischen Mammut-Siedlungsprojekts “E-1” beinahe hermetisch von der West-Bank getrennt.
Die “Sicherheitsbarriere” (israelischer Jargon) oder die “Apartheitsmauer” (arabischer Jargon) haben nennenswerte Teile der West Bank de facto annektiert. Die Mauer hat im übrigen zahllose Gemeinden von ihren landwirtschaftlichen Flächen abgeschnitten.
Die Wasserversorgung der Westbank liegt in den Händen Israels**. Während die Siedler – deren Zahl jüngst die Schwelle von einer halben Million überschritten hat – reichlich davon hat, ist Wasser für die Araber Mangelware.
Nicht zuletzt darf man starke Zweifel haben, dass die israelische Führung tatsächlich einen Palästinenserstaat haben will. Denn während man in Camp David vor elf Jahren noch darüber gestritten hatte, ob Israel den Palästinensern nun 95 oder 97 Prozent der West Bank zugesteht, bot Netanjahu letztes Jahr 60 Prozent an.
Das Ende der Geduld
Obwohl die Internationale Gemeinschaft der israelischen Übernahme von palästinensischen Land jahrzehntelang wortreich aber tatenlos zugesehen hat, mehren sich in jüngster Zeit die Anzeichen für einen grundlegenden Politikwechsel.
Der Grund ist so zynisch wie einleuchtend: Die westliche Welt war nach 9/11 zu sehr auf den “war on terror” fixiert. Israels energisches und über weite Strecken brutales Vorgehen gegen die Palästinenser wurde im Schatten von 9/11 irgendwie toleriert. Mancher hatte die Dinge wohl klar gesehen, aber sich der “politischen raison” zuliebe zurück gehalten.
Erst jetzt, nachdem 9/11 an Dominanz verloren hat, wird einem größeren politischen Publikum klar wie einseitig und ungerecht Israels Verhalten seit dem Scheitern von Camp David 2000 den Palästinensern gegenüber war und noch immer ist.
Südamerika befördert die Staatgründung Palästinas
Hinzu kommt die Veränderung der globalen Machtverhältnisse.
Seit den beiden Golfkriegen und dem Afghanistankrieg sind die Vereinigten Staaten ausgelaugt. Zugleich haben viele ehemaligen Dritte-Welt-Länder ökonomisch aufgeholt und sind inzwischen Schwellenländer oder – wie Brasilien – wirtschaftliche Großmächte.
Mit dieser neuen Stärke und einer entsprechenden Unabhängigkeit können es sich diese Staaten erstmals erlauben ihre eigene Außenpolitik zu betreiben, ohne vom übermächtigen Nachbarn im Norden gegängelt zu werden.
Daher ist es kein Zufall, dass ausgerechnet die südamerikanischen Staaten Brasilien, Argentinien, Bolivien und Ecuador in den vergangenen Wochen erklärten, einen Staat Palästina in den Grenzen von 1967 anzuerkennen. Diese Staaten sind weder innenpolitisch gebunden (wie die USA an ihre Millionen fundamental-christlicher Unterstützer Israels), noch haben sie eine belastete Geschichte (wie viele europäische Länder, Deutschland allen voran).
Aktuell ist Chile dazu gekommen, obwohl Benjamin Netanjahu telefonisch bei Chiles Präsidenten Pinera intervenierte. Von Uruguay erwartet man in Kürze denselben Schritt. In den diplomatischen Kreisen Jerusalems fürchtet man einen Nachahmungseffekt und geht davon aus, dass bis Ende Februar die meisten südamerikanischen Länder einen Staat Palästina anerkennen.
Palästina jetzt!
Im Grunde ist die Anerkennung Palästinas nichts Neues, da schon inder Folgezeit der Oslo-Verträge (1993) zahlreiche Staaten eine Anerkennung ausgesprochen haben. Doch damals bezog sich diese Anerkennung auf die Erwartung, dass man in der Folge der vereinbarten drei Oslo-Phasen zu einer einvernehmlichen Zweistaatenlösung gelangen würde. Das trat nicht ein und damit blieben die Anerkennungen in der Schwebe.
Nun scheint mit dem Vorstoß der südamerikanischen Länder eine neuer Ansatz verfolgt zu werden: Man will nicht mehr auf die allzu lange in Aussicht gestellte einvernehmliche Lösung warten, sondern einen Staat Palästina anerkennen, solange dessen Gründung angesichts der Landnahme durch die Siedler überhaupt noch möglich ist.
Rückendeckung kam schon im Februar letzten Jahres von Frankreichs Außenminister Kouchner. Man könne die Anerkennung eines palästinensischen Staates in Kürze ebenso erwarten wie die sofortige Anerkennung:
One can envision the proclamation soon of a Palestinian state, and its immediate recognition by the international community even before negotiating borders.
In Verkennung der Zeichen der Zeit versperrt sich Washington. Deutschland lässt den Mut vermissen, die mehr als überfällige Souveränität Palästinas zu unterstützen.
Für die Ausrufung eines Staates Palästina ist es fünf vor zwölf.
Palästina hat nichts mehr zu verlieren.
Sobald in der Vollversammlung der Vereinten Nationen die nötige Zweidrittelmehrheit zusammenkommt, damit die Deklaration Palästinas auch völkerrechtlich anerkannt ist, kann sich sogar das relativ mächtige Israel kaum erlauben sein Heil erneut in militärischer Unterdrückung zu suchen.
Mahmoud Abbas sollte die Gunst der Stunde nutzen und wie angekündigt im September den Staat proklamieren.
— Schlesinger
* Quelle: SZ v. 03.07.2000
Photo Abbas: Wikipedia CC
** Zur Wasserverteilung im Westjordanland: “The discriminatory and unfair division of shared water resources creates a chronic water shortage in the West Bank, and is liable to harm Palestinians’ health. The World Health Organization recommends a minimal per capita daily consumption of 100 liters. The daily per capita consumption in Israel is 242 liters in urban areas and 211 liters in rural communities (in 2007). By comparison, the consumption in the West Bank is 73 liters per person (in 2008). In certain districts, consumption was as low as 37 liters (Tubas District), 44 (Jenin District), and 56 (Hebron District).” (Quelle: B’Tselem, 2010)