David Harris, Direktor des Jewish American Committee, hat in der Jerusalem Post einen Blogbeitrag zur Frage nach der jüdischen Einheit verfasst: “Are we one people?”.
Zu Beginn kitzelt der Autor seine Leser mit der provokativen Feststellung, dass er über Jahre hinweg tatsächlich so naiv gewesen sei, an die Einheit des jüdischen Volkes zu glauben:
How naïve I’ve been all these years!
I actually thought that Jews meant it when they spoke of “one people” and repeated the injunction, “All Jews are responsible one for the other.”
Da horcht man ein bisschen auf, weil man so einen Einstieg vom Direktor eines jüdischen Verbandes eher nicht erwartet. Aber man ahnt: Das kann nur ein dramaturgisches Mittel sein. Und liegt mit dieser Ahnung richtig.
Harris dekliniert sodann die historisch-kulturellen Gemeinsamkeiten durch, die Juden aller Herkunft trotz vielfältiger Differenzen miteinander verbindet.
In einer tour de force werden die großen Schlaglichter nochmals aufgezählt: Der Auszug aus Ägypten, die Gottestafels Moses‘, die Diaspora mit den vielfältigen Gefahren und Verfolgungen bis hin zu “Arbeit macht Frei“.
Nachdem er die eingangs angedeuteten theoretischen Zweifel an der Einheit seines Volkes damit recht zügig ad acta gelegt hat, betont er umso deutlicher den Gemeinschaftsgedanken:
Whether every Jew mirrors my own worldview, lifestyle, or practice is, in the final analysis, irrelevant. Rather, I subscribe to what I’d call a Jewish version of “e pluribus unum” – many paths, one journey.
Dazu fügt sich eine private Geschichte Harris’. Die Mutter habe stets für jüdische Wohlfahrtsverbände gespendet, auch wenn sie offenkundig nicht völlig den eigenen Zielen entsprochen hätten.
My mother, despite very limited income, always gave him something. When I asked why, as it was clear that his lifestyle and ours were quite different, my mother said something about Jews needing to help other Jews. End of conversation. It was a message that stuck.
Beim Lesen des Blogs von David Harris war ich hin- und hergerissen. Einerseits eine schöne Geschichte von der Einheit eines Volkes, andererseits fast zu romantisch, um wahr zu sein.
Vielleicht ist es ganz einfach wie mit allen gesellschaftlichen “Erzählungen” (oder Mythen): Jede Gesellschaft muss oder sollte sie haben, um als Gemeinschaft funktionieren zu können, gleich welche Bezeichnung diese Mythen tragen oder welchen Inhalts sie sind.
Ob es die einheitsstiftende Geschichte des “christlichen Abendlandes” ist, die Geschichte der “umma” als der länderüberspannenden Gemeinschaft der Muslime, der Pioniergeist der Amerikaner, die strenge Ordnungs- und Gemeinschaftstradition der Japaner oder eben die Geschichte des jüdischen Volkes.
Eine einheitsstiftende Geschichte funktioniert, so lange sie funktioniert.
Auf die Ingredienzen kommt es dabei letztlich nicht an: “Geschichte” in diesem Zusammenhang kann man wörtlich nehmen als als die historische Geschichte, aber auch im theologischen Sinn als Religion, oder im anthropologischen Sinn als Mythologie, oder im psychologischen Sinn als “Illusion” (Freud) oder im politischen Sinn als “Ideologie“.
Solange die Bestandteile solcher “Geschichten” ihre Wirkung entfalten, lebt der sinnstiftende Mythos. Nur weil er “lebt”, also “funktioniert”, wird daraus noch kein Beweis einer immerwährenden “Wahrheit”.
Der Rittermythos hatte seine Zeit, der Zarathustra-Kult, der Pharaonenkult, das Cäsarentum, der Faschismus, der Nazismus, der Kommunismus, Naturkulte, die Euphorie der Aufklärungszeit etc.pp.
Das war schon immer so und wird auf alle Zeiten so bleiben, denn das ist eine humane Grundkonstante:
Wir sind die “götterschaffende Spezies” (Neil Postman)
Manche dieser Mythen lebten und wirkten Jahrhunderte, manche Jahrtausende. Alle haben ihre Zeit und fallen ihr anheim. Selbst wenn es für manche schwer akzeptabel sein mag: Auch das Christentum ist – wenigstens in Europa – über “seine Zeit”, und wo der Islam in zwei Jahrhunderten steht, kann niemand beurteilen.
Das Judentum (welches ist gemeint: Das orthodoxe oder das säkulare oder das zionistische, das es in beidenvorgenannten Richtungen gibt?) besteht als echte Gemeinschaft für die, für die es besteht.
Die vermeintliche Einheit
Der ermordete damalige Ministerpräsident Rabin wetterte in der Knesset über die orthodoxen Siedler, sie seien eine Schande für das israelische Volk, seien ein “Fremdkörper” und “Unkraut”. Man wird nicht zu weit gehen zu sagen, dass das Judentum für Begin keinen allumspannenden Horizont hatte, sondern sich auf den Teil der Juden erstreckte, der seinen Weg mitgehen wollte.
Als der Kolumnist der New York Times Thomas L. Friedman während seiner Beirut-Jahre Zeitzeuge des Massakers von Sabra und Schatila wurde, bei dem die israelische Armee Rückendeckung gab für die mordenden christlichen Phalangisten, brach ein Gutteil seiner bisherigen Anschauung über seine Landsleute zusammen und musste ersetzt werden durch ein nüchternes, “kaltes” Bild, wie es den harten Machtkonstellationen im Nahen Osten entspricht. Selbstverständlich wirkt auch das sinnstiftend: Eine Wehr- und Verteidigungsgemeinschaft.
In der Zeit während des Zweiten Weltkriegs, als sich die zionistischen Siedler in Palästina auf die Schaffung ihres Staates vorbereiteten, gab es heftigen Richtungsstreit über die Natur des künftigen jüdischen Staates. Entgegen den Auffassungen des späteren Staatsgründers David Ben Gurion forderte die einflussreiche Gruppierung der “sozialistischen Zionisten” eine geradezu faschistische Reglementierung, wer künftig im Staatswesen Aufnahme finden sollte. Ihnen schwebte ein “besserer Staat” vor, der durch die Auswahl seiner Bürger erreicht werden sollte. Auch hieran kann man ermessen: Das Gemeinschaftsstreben, das vermeintlich stets alle Juden umfasst, ist historisch betrachtet keinesfalls durchgängig vorhanden.
Das sollen nur wenige Hinweise darauf sein, wie man die Beschwörung einer Einheit bei Lichte betrachten kann. Das trifft selbstverständlich auf alle oben genannten “Geschichten” zu und ist keinesfalls eine Besonderheit Israels oder der Juden.
Und doch ein Band von Brüdern?
Ein bisschen Neid mag mitschwingen, wenn man jemanden so voll Überzeugung von der Identität seines Volkes sprechen hört, wie Harris es tut, und ihm seinen Glauben daran abnimmt.
Man fühlt sich an das Fehlen eines eigenen wirksamen Mythos erinnert.
Wir in Deutschland sind längst keine “Bürger” mehr, sondern – so der hochoffizielle und allgegenwärtige Sprachgebrauch – nur noch “Verbraucher“. Christliche Verbraucher ?
Zuerst meinte ich, die Beteuerungen von Harris seien sein eigenes Pfeifen im Wald (ganz ausschliessen will ich es nicht), aber es könnte auch das sein: Die eigene Erkenntnis, dass wir es sind, die sich im Wald befinden und pfeifen.
Daher vielleicht das Unbehagen an Harris’ Beitrag.
Möge er Recht haben. Shalom Israel.
— Schlesinger
(Photo: skippy13)