Afghanistan steht im achten Kriegsjahr. Damit dauert dieser Krieg bereits zwei Jahre länger als der Zweite Weltkrieg. Diese Zählung gilt selbstredend nur, wenn man den jüngsten Krieg nimmt, nicht den russisch-afghanischen, der zehn Jahre währte, oder die zwischendurch immer wieder höchst gewalttätigen Zeiten der sowjetunions-freundlichen Regimes nach dem Sturz des Königs Zahir Schah im Jahr 1973.
2009 dürfte der besonders umkämpften Provinz Helmand ein harter Sommer bevorstehen. Denn zum einen befindet sich dort die militärische Hochburg der Taliban und zum anderen deren schier unerschöpfliche Geldquelle: Das Opium.
Das wissen nicht nur die Talibanführer, sondern auch die Bevölkerung. Während die Bevölkerung seit längerem kriegsmüde ist und den Taliban argwöhnisch gegenüber steht, wird dem einen oder anderen in der Führungsriege der Taliban bewußt, dass die Unterstützung aus der Bevölkerung zunehmend nur aus der Not geboren ist, und nicht aus Überzeugung.
Den Westen als Besatzer will in der Bevölkerung niemand, aber kaum weniger ablehnend steht man insgeheim den rückwärtsgewandten Taliban gegenüber. Zu lange währte deren brutales Schreckensregime nach der Vertreibung der Sowjets 1989.
Einen Vorgeschmack dessen, was auf auf die Bevölkerung im Falle einer erneute Talibanführung Afghanistans zukommen dürfte, gewinnen die Afghanen mit Blick auf das von den Taliban unter Kontrolle gebrachte pakistanische Swat-Tal.
Um die nicht mehr kontrollierbare Region zur Ruhe zu bringen, hat sich die pakistanische Regierung unter Präsident Ali Zardari auf weitgehenden Zugeständnisse gegenüber den Taliban eingelassen, was einer faktischen Machtübergabe gleichkommt. In diesem Zuge wurde vor Ort auch das islamische Scharia-Recht eingeführt. Schon haben öffentliche Auspeitschungen stattgefunden.
In jeder Rechtsprechung gibt es Spielräume. Die Taliban legen die im Strafmaß weit gehenden Regeln der Scharia allerdings hart aus.
So wurde erst letzte Woche ein junges Paar in Talibangebiet im südlichen Afghanistan erschossen, weil sie sich über das elterliche Heiratsverbot hinwegsetzen wollten. Die Eltern übergaben das aufgegriffene Paar den Taliban, die sie exekutierten. Zwar haben die Taliban die Aktion abgestritten (was in deutschen Medien bisweilen unter den Tisch fällt), aber der Umstand, dass der Vorfall in einer absolut von den Taliban kontrollierten Region und bei einem Massenauflauf stattfand, spricht mindestens für deren Tolerierung dieses Vorgangs. Alles andere würde ein Affront gegenüber der Talibanführung gleichkommen, was unter diesen Verhältnissen der Todesstrafe gleichkommen würde.
Dies alles – der jahrelange Krieg, die mehrfache Abhängigkeit vom Opium, die neuerliche Perspektive einer radikalislamischen Diktatur – liegt wie ein bleierner Schleier über dem Land.
Taliban vs. Taliban
Die britische TIMES hat von einem Taliban-Offizier der mittleren Führungsebene neuartige und beinahe revolutionär anmutende Töne vernommen. Mullah Mansoor, so dessen Name, berichtete von der Frustration, im eigenen Land auf Ablehnung zu stoßen. Er kann es verstehen und zieht seine eigenen Schlüsse daraus. Mit den Dorfältesten der Umgebung scheint er im Einvernehmen zu sein, dass man einen Frieden mit der Zentralregierung aushandeln könne, so dass endliche Ruhe einkehre in der Region. Mansoor weiß, dass sich eine solche Vorgehensweise nicht deckt mit der offiziellen, rigorosen Taliban-Politik. Daher erwartet er sogar einen Angriff aus den eigenen Reihen. Diese Aussicht scheint ihn nicht zu schrecken, sie hätten, so meint er, mehr als genügend Waffen, um sich zu wehren.
Eine derartige Situation wäre nichts Neues. Bereits der Widerstand der Mujaheddin gegen die sowjetische Besatzung (1979-1989) war in vier große und zahllose kleinere Gruppierungen heillos zerstritten. Nur während des Krieges hielt die Koalition dürftig.
Nach dem Abzug der Sowjets fielen die Fraktionen der Mujaheddin übereinander her, bis schließlich die jüngste der Gruppierungen, die erst 1994 gegründeten Taliban (“Schüler” oder auch “Studenten” des Islam), die Oberhoheit über den größten Teil des Landes erringen konnten. Bis zum Jahr 2001 kontrollierten sie etwa drei Viertel des Landes.
Wie ist eine solche Offerte wie die von Mullah Monsoor oder, da es sich noch nicht um ein offizielles Angebot handelt, ein solches lautes Nachdenken einzuschätzen?
Schlechte Erinnerungen werden an das sogenannte “Musa-Qala-Abkommen” von 2006 geweckt. Damals hatten innerhalb der Provinz Helmand die Ältesten der Region Musa Qala (der Name steht sowohl für die Region, wie auch die kleine Stadt) den Briten vorgeschlagen, sie sollten sich zurückziehen, während die lokalen Stämme für Ruhe und dafür sorgen würden, dass die Taliban fern blieben. Die Amerikaner waren dagegen, doch die Briten liessen sich darauf ein. Vier Monate später war die Region von den Taliban kontrolliert, die sogleich ein erneutes Terrorregime walten liessen:
Der Bezirk Musa Qala in Nord-Helmand ist ein Distrikt, den einige Militäroffizielle und afghanische Führer schon großspurig zum Pazifizierungsmodell für die instabile Region erklärt hatten.
Aber im Moment reißen Aufständische mit Traktoren die Wände der Gebäudeblocks von Polizeihauptquartier und Distriktverwaltung von Musa Qala ein. Der fragile Friede mit den Taliban hat drei Monate gehalten.
“Jetzt kontrollieren die Taliban Musa Qala, und die Leute haben Angst”, sagt Rahmatullah, einer von mehreren Bewohnern, die die Szene am Telefon schildern. “Alle Läden sind leer, die Häuser sind leer”.
Nun muss sich der damalige Vorgang nicht zwangsläufig wiederholen, doch Vertrauen war damit nicht zu gewinnen.
“Gemäßigte Taliban” ein Widerspruch in sich?
US Präsident Obama hat wiederholt erklärt, dass er gewillt sei, mit gemäßigten Kräften der Taliban kooperieren zu wollen. Zweifellos gibt es innerhalb der Taliban Fraktionen unterschiedlichster Ausrichtungen.
Skeptiker haben dem Präsidenten sogleich vorgeworfen, dass es sich dabei um Tagträumereien handele. “Gemäßigte Taliban” seien ein Widerspruch in sich. Hört man die offizielle martialische Replik der Taliban auf derartige Gespächsangebote, könnte man den Skeptikern Glauben schenken:
Taliban chieftains will not admit publicly that they are negotiating, calling the news reports “baseless lies.”
A Taliban spokesman said, “Our position remains unchanged. We will conduct jihad and continue resistance as long as foreign forces are present in Afghanistan.
If you wait for 3,000 years, our position is that the Taliban will not enter into any kind of talks.” Of course that is their going-in position; we may be able to bargain them down to 1,000 years.
Einmal mehr in scharfer Unterscheidung zu seinem auf Schwarz-Weiss-Denken abonnierten Vorgänger Bush hat Obama die komplexe Lage in Afghanistan durchaus erkannt:
“You have a less governed region, a history of fierce independence among tribes.
Those tribes are multiple and sometimes operate at cross purposes, and so figuring all that out is going to be much more of a challenge.
I think we still have to think about how do we deal with that kind of scenario”
Damit kommt andeutungsweise zum Ausdruck, was an anderer Stelle Tom Friedman oder auch Peter Scholl-Latour zurecht befanden: Im Orient spielen immer einige Motive mehr in die Handlungen als bei uns. Gewiß liegt jedem Taliban an der Vertreibung der Ausländer und der Rückgewinnung der Macht. Aber ebenso wie zu Zeiten der Mujaheddin-Front die Hezb-e-Islami erbitterte Gegner der Ausländer waren, aber kein Interesse an einem Krieg gegen die Ausländer im Ausland hatten, sollte der Westen daran interessiert sein herauszufinden, ob es Kräfte unter den Taliban gibt, die zwar die NATO aus dem Land haben wollen, aber erstens sich – in Abgrenzung zu den alten aktiven Al-Quaida Unterstützern – mit diesem Ergebnis auch zufrieden geben würden und zweitens nicht ein erneutes Schreckensregime wie das der Jahre 1994-2001 errichten wollen. Ein nennenswerter Teil der Taliban dürfte nach den alten Stammes-Logiken handeln. Dabei geht es um Einfluss und Status in der Region, um Verwandtschaften, Stammeszugehörigkeit, Geschäftsinteressen, Religion, Geschichte, Tradition. Lediglich die “neue Internationale” derjenigen Taliban, die mit der Al-Quaida kollaborierte, hat andere Interessen.
Nachdem Obama erklärt hat, dass die USA den Krieg in Afghanistan militärisch kaum gewinnen können, geht es ohnedies nur noch um ein Verlassen des Landes, das auf welche Art auch immer irgendwie “normal” sein möge.
Dass es sich dann um ein islamisches Land handelt, und nicht um eine Demokratie westlichen Zuschnitts oder eines Zuschnitts à la Türkei, ist längst allen Akteuren klar.
Gemessen an den realistischen Möglichkeiten für einen geordneten Ausstieg wird die Obama-Regierung in ihrem pragmatischen Vorgehen auch hier die Möglichkeiten ausloten. Alles andere wäre fahrlässig in der tumben Weise, die einen George W. Bush auszeichnete.
Ob die Taliban kriegsmüde sind, spielt in diesem Kontext offen gesagt eine nachgeordnete Rolle. Sie sind finanziell bestens ausgestattet und verfügen mit dem Nordwesten Pakistans über ein vorzüglich abgeschirmtes Rückzugsgebiet. Kriegsmüde ist sicherlich die Bevölkerung, kaum aber die Taliban selbst.
Wichtiger als “Kriegsmüdigkeit” ist indessen die Akzeptanz der Taliban in der Bevölkerung. Akzeptanz in der Bevölkerung – und damit wären wir wieder beim eingangs genannten Mullah Mansoor – dürfte ein wesentlich stärkeres Motiv sein, künftig pragmatischere Wege zu beschreiten, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Beide Parteien würden demnach höchst rational handeln – und beide könnten profitieren.
Ob es so kommt? Ich fürchte Nein. Denn “Akzeptanz in der Bevölkerung” ist eine typisch westliche, demokratie-orientierte Überlegung. Ein erklärter Gotteskrieg (Jihad) orientiert sich eher nicht an Akzeptanzüberlegungen. Darin geht es vielmehr um den Endsieg (oder die Endniederlage) in einem ideologischen Krieg.
Die NATO dürfte früher oder später abziehen und die Taliban wieder in Kabul einmarschieren. 1994 lässt grüßen.
Und dennoch sollte heute gelten: Alle Möglichkeiten ausloten, denn Vorhersagen waren noch nie sonderlich zuverlässig. Ob es (inzwischen) so etwas gibt wie “gemäßigte Taliban”, kann auch eine Washington Post nicht durch Handauflegen wissen. Das wiederum weiß Obama.
— Schlesinger
(Photo: Al Jazeera) (Photo: IndianExpress) (Photo: dysviz)